Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
wissen müssen, wird gefiltert und überprüft. Was wir entdecken, kommt aus zweiterHand, und zwar meistens von Leuten, die wir gerade deshalb ausgesucht haben, weil sie dieselben Vorlieben haben wie wir.« Kritiker, die vom Niedergang der Serendipität sprechen, verweisen meist auf althergebrachte Methoden der Wissensbeschaffung, zu denen es im Web angeblich kein Gegenstück gibt. Zum einen wäre da McKeens »Stöbern in den Regalen, ein Buch herausziehen, weil der Titel interessant klingt oder der Einband vielversprechend aussieht«. Stöbern in Bibliotheken oder Buchhandlungen führt in der Tat zu unvorhergesehenen Entdeckungen, aber die Vernetztheit des Web sowie der in der Blogosphäre herrschende Wissensdurst und Hunger nach Neuem machen es weit einfacher, beim Browsen über Unerwartetes und Geniales zu stolpern, als das beim Herausziehen von Büchern je der Fall war. Nutzt jeder das Internet auf diese Art? Natürlich nicht. Aber diese Art von Stöbern ist weit stärker verbreitet, als es das Stöbern in Bibliotheken jemals war. Das ist die Ironie an der Serendipitäts-Debatte: Was angeblich vom Aussterben bedroht ist, ist von einer Randerscheinung zum Massenphänomen geworden.
Die andere Eigenschaft traditioneller Medien, die Serendipität fördert, hat mit der physischen Beschaffenheit gedruckter Zeitungen zu tun. Wenn wir sie durchgehen auf der Suche nach dem, was uns gerade interessiert, blättern wir automatisch über jede Menge Seiten mit gut recherchierten Artikeln aus allen möglichen Bereichen. Für den US-amerikanischen Professor der Rechtswissenschaften Cass Sunstein ist dies eine der ureigensten Qualitäten von Serendipität. Beim Blättern nach dem Sportteil, den Cartoons oder den Wirtschaftsseiten springt Ihnen eine Überschrift ins Auge, von einem Artikel über die Ausbeutung in Diamantenminen in Afrika zum Beispiel. Nach ein paar Absätzen haben Sie einen Einblick in den Alltag von Menschen, die Tausende Kilometer entfernt leben und mit deren Lebensumständen Sie sich vielleicht noch nie beschäftigthaben. Völlig unabhängig davon suchen Sie schon länger nach einem sozialen Projekt, das sie mit einer Spende unterstützen können, oder Sie wollen Ihrer Frau einen Diamantring kaufen, und jetzt fällt Ihnen dieser Artikel in den Schoß, der sie durch eine glückliche Fügung mit Informationen zu beidem versorgt.
Dieses Beispiel illustriert in der Tat hervorragend, wie Serendipität funktioniert, und zweifellos haben Zeitungen im Lauf ihrer Geschichte an unzähligen Frühstückstischen unzählige Male genau dies geleistet. Die Frage ist: Sind derartige Zufallsfunde im Internetzeitalter häufiger oder seltener geworden? Stellt man Online- und Printausgaben von Zeitungen gegenüber, scheint das Netz die Oberhand zu haben, wie Blogger und Internetexperte Ethan Zuckerman feststellte. Zuckerman verglich die Titelseite der New York Times mit ihrem Pendant im Netz. Bei der Printversion fand er dreiundzwanzig Verweise auf Artikel in derselben Ausgabe (die auf der ersten Seite abgedruckten Artikel mitgezählt). Auf NYTimes.com waren es 315 Links zu Artikeln und anderen Inhalten. Was das Überfliegen der Titelseite betraf, bot das Netz also weit mehr als das Zehnfache an möglicherweise serendipitösen Verknüpfungen als die klassische Printausgabe.
Cass Sunstein würde jetzt wahrscheinlich dagegenhalten, dass die meisten Leser die Eingangsseite einer Onlinezeitung gar nicht erst zu Gesicht bekommen, weil sie über Lesezeichen oder andere Filter direkt zum Sport- oder Wirtschaftsteil springen. Er hätte wohl recht. Sunstein, Darlin und McKeen liegen absolut richtig, wenn sie behaupten, dass die Filtermöglichkeiten, die das Internet bietet, etwas in der Medienlandschaft noch nie Dagewesenes sind. Filter beschränken Serendipität, aber diese Filtermöglichkeiten sind nur eine Seite der Medaille, und bis auf die Lesezeichen kamen sie erst später hinzu. Zwei ureigenste Eigenschaften des Netzes hingegen fördern Serendipität auf idealtypische Weise: Das Web ist einweltweites Medium, in dem jeder veröffentlichen kann, und die Hypertextdokumente machen es zum Kinderspiel, binnen weniger Sekunden von einem Zeitungsartikel über einen wissenschaftlichen Aufsatz zu einer Enzyklopädie zu springen. Die Informationsvielfalt im Netz bietet einen unerschöpflichen Hort an überraschenden Entdeckungen, und die Hypertextlinks sorgen dafür, dass wir innerhalb von Sekunden an diese Informationen herankommen.
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