Wo immer Du bist, Darling
signalisierte er ihm mit knappen Handzeichen, dass sich Anja wieder etwas gefasst hatte. Der Kubaner nickte zwar, ließ sie aber trotzdem nicht aus den Augen. Oliver konnte langsam verstehen, warum sich Anja bei dem Mann so sicher gefühlt hatte. Seinem Laserblick entging nicht die geringste Kleinigkeit. Er wachte über sie mit geradezu greifbarer Intensität und würde wahrscheinlich jeden umbringen, der ihr irgendwie zu nahe trat. Oliver hätte keine Bedenken um Anjas Sicherheit gehabt, wenn man die beiden allein im verruchtesten Viertel von New York ausgesetzt hätte.
Alle Anwesenden erhoben sich, als der Richter eintrat.
*
Anja ballte die Hände zu Fäusten und hielt den Atem an. Jetzt war es so weit.
Der Jurist nahm Platz, setzte sich die Brille auf und entfaltete den Urteilsspruch. »Ramon Peréz wird für schuldig befunden in allen Punkten der Anklage. Aufgrund seiner Beteiligung an der Flucht von Miss Zimmermann und der Mithilfe am Ergreifen der weiteren Täter wird die Haftstrafe auf einundzwanzig Jahre angesetzt. Die Verhandlung ist geschlossen.«
Der Knall des Hammers dröhnte wie ein Kanonenschlag durch Anjas Kopf. Einundzwanzig Jahre. Einundzwanzig Jahre. Einundzwanzig Jahre!
Ein kalter Schauder nach dem anderen rieselte ihren Rücken hinab. Vor ihren Augen begann es verdächtig zu flimmern und sie spürte, wie die Dunkelheit in ihr Gesichtsfeld kroch.
In Zeitlupe drehte sie den Kopf zu Ramon. Sie sah gerade noch, wie er mit einem gewaltigen Sprung über die Brüstung setzte, dann empfing sie das bodenlose Nichts.
*
Anja kippte einfach zur Seite. Oliver bemühte sich noch, ihren Sturz von der Kante der Holzbank wegzulotsen, da war Ramon schon bei ihnen.
Wie der Kubaner es geschafft hatte, trotz der Fesseln so schnell den Raum zu durchmessen, blieb Oliver ein Rätsel.
Ramon griff sofort nach ihr. Mit einer Behutsamkeit, als wäre sie zerbrechlichstes Glas, zog er sie an sich. »Anja, ¡por gracia de dios! W ach auf! Öffne deine Augen , querida. Bitte, sieh mich an!«
Als die Ordnungshüter wie ein drohendes Unheil vielfach auf sie zugestürmt kamen, rappelte sich Oliver eilig auf. Es bedurfte seiner ganzen Überzeugungskraft, die Männer so weit zu bringen, den beiden die versprochenen Minuten jetzt schon zu gewähren.
*
Anja vermeinte, Ramons Stimme zu hören, aber nicht weit weg, sondern dicht bei ihr. Merkwürdig.
Sie hatte auch das Gefühl, seine Berührung zu spüren. Das musste ein Traum sein, das war nicht real.
Langsam befreite sich ihr Bewusstsein aus dem Nebel der Ohnmacht. Sie öffnete die Lider und blickte aus nächster Nähe in Ramons grünbraune Augen. Das war ganz sicher ein Traum. Das Bild blieb. Ramon sah sie an und hielt sie im Arm. Schlagartig wurde sie wach. Ramon hielt sie im Arm!
»Anja, Gott sei Dank.« Aufatmend drückte er seine kantige Wange gegen ihre Stirn. »Du machst vielleicht Sachen, querida. « Seine Hand massierte ihren Nacken.
Ehe Anja die zärtliche Berührung genießen konnte, beugte sich eine zweite Person über sie. Nach zwei ratlosen Sekunden erkannte sie den Mann. Es handelte sich um den Officer, der Ramon in den Raum geführt hatte. Erst allmählich begriff sie, dass sie sich immer noch im Gerichtssaal befanden.
Zu dritt. Niemand sonst war mehr hier.
Sie hob die Arme und schlang sie um Ramons Hals. Ohne zu zögern, fasste er unter ihre Beine. Anja hatte kurz das Gefühl, zu schweben, weil er mit ihr aufstand, dann kuschelte sie sich dicht an seine Brust. Den Kopf an seine Schulter gelegt, beäugte sie den Wärter.
Der grauhaarige Mann trat einen Schritt nach vorn, schien unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Einige Herzschläge lang rührte sich keiner, dann griff er zögernd auf Ramons Schulter. »Wenn Sie schwören, keine weiteren Dummheiten zu machen …« Sein Blick streifte die Eingangstür, als fürchtete er, seine leisen Worte könnten sämtliche Kollegen auf den Plan rufen. »… werde ich Ihnen jetzt für einen Moment die Handschellen abnehmen.«
Anja sah den Mann überrascht an und spürte, dass es Ramon genauso erging.
»Sie haben mein Wort«, versprach er ruhig. Er beugte sich vor und setzte Anja vorsichtig auf der Bank ab, dann drehte er sich dem Wärter zu und hob ihm seine Handgelenke entgegen. »Ich danke Ihnen.«
Der Officer nickte stumm und öffnete den Verschluss. Er blickte sie noch einmal beide an. »Ich muss im Raum bleiben. Sie haben zwanzig Minuten«, erinnerte er und ging in die Ecke
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