Wo immer Du bist, Darling
Hätte jemand sie gefragt, was im Saal um sie herum geschah, hätte sie es nicht beschreiben können, so unablässig sah sie ihn an.
Sie bewegte sich erst wieder, als sich der Richter und die von der Verfassung vorgeschriebenen Geschworenen zur Beratung zurückzogen. Mit hölzernen Gliedmaßen verließ sie vor Oliver den Saal und nahm neben Carolin auf der Bank vor dem Raum Platz.
Dort saßen sie. Stundenlang. Nervös und aufgekratzt verfolgte Anja, wie Oliver erneut zum Gerichtsdiener gerufen wurde. Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, wirkte seine Miene sehr ernst.
Er rieb sich übers Gesicht und ging vor Anja in die Hocke.
*
»Der Staatsanwalt hat angedeutet, dass aufgrund deiner Aussage und Ramons Kooperation nicht die Höchststrafe festgesetzt wird.« Oliver stützte die Ellbogen auf die Knie. »Wie viele Jahre genau verhängt werden, steht noch nicht abschließend fest.«
Anja nickte, trotzdem spürte er deutlich, wie hart sie mit den Tränen rang. Carolin drehte sich zu ihr und sprach ihr leise Mut zu.
Oliver schwieg, während die Frauen über seine Information beratschlagten. Dass er nichts Konkretes wusste, stimmte nicht ganz. Er hatte inzwischen Kenntnis davon, wo sich bei der vorliegenden Summe an Vergehen die Höchstgrenze der Strafe ansiedelte. Bei 24 Jahren.
Üblicherweise wurde die Höchstgrenze nicht erreicht, aber in diesem Fall war nicht auszuschließen, dass sie sich nahe darauf zubewegten. Die Umstände hatten sich durch Santos’ Tod denkbar ungünstig entwickelt und auch die Tatsache, dass der Richter in Fachkreisen nicht gerade für seine Milde bekannt war, verbesserte die Lage nicht.
Oliver rieb sich die Stirn. Trotzdem wollte er Anja nicht unnötig beunruhigen. Falls es zum denkbar ungünstigsten Fall kam, konnte ohnehin niemand etwas dagegen unternehmen, am allerwenigsten Anja.
Als wären diese Hiobsbotschaften nicht entsetzlich genug, gab es leider noch etwas, was er ihr und Carolin berichten musste. Er räusperte sich, bis sie ihn wieder anblickten. »Der nächste Punkt, der mir mitgeteilt wurde, betrifft euch beide«, nahm er den Faden wieder auf.
»Was ist denn mit uns?«, fragte Carolin an Anjas Stelle, weil diese ihn nur stumm ansehen konnte.
»Leider hat der Staatsanwalt mir auch gesagt, dass ihr binnen zwei Wochen nach der Verhandlung das Land verlassen müsst und nicht wieder einreisen dürft. Außerdem soll ich euch nochmals darauf hingewiesen, dass der Prozess zum Mord an Ramons Mutter unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und ihr daher nicht über die Ereignisse berichten dürft. Das gilt vor allem für dich, Caro.«
Carolin blickte ihn fassungslos an. »Und mehr haben die wirklich nicht gesagt? Das gibt’s doch gar nicht!«
Oliver schüttelte beklommen den Kopf. »Das ist alles, das war der Deal. Es war von Anfang an ein riskantes Spiel und mehr ist einfach nicht drin.«
*
Anja verstand nur zu gut, was das alles bedeutete.
Sie durfte das Land nicht mehr betreten, geschweige denn Ramon besuchen – das hatte Oliver ja bereits vorhergesehen.
Was ihr allerdings die größte Sorge bereitete, war die unkonkrete Aussage zur Festlegung von Ramons Strafmaß. Olivers Warnung, es könne aufgrund der Einzelverurteilung von Ramon zu einer höheren Strafe kommen, verursachte ihr entsetzliche Panik. Was, wenn er in diesem Punkt auch recht behielt?
Oliver und Carolin wechselten noch einige Worte, doch ihre Stimmen rauschten an Anjas Ohren vorbei. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um eine Frage. Wie viele Jahre? Wie viele Jahre würden sie festsetzen?
Als Anja mit Oliver zur Urteilsverkündung in den Saal gerufen wurde, versagten ihr beinahe die Knie. Dankbar spürte sie, dass er stützend ihren Ellbogen umfasst hielt, während sie ihre Sitzplätze wieder einnahmen. Die Umgebung flackerte vor ihren Augen und mit letzter Kraft zwang sie sich, ruhig zu atmen. Sie durfte jetzt nicht in Ohnmacht fallen. Irgendwann sonst, aber nicht jetzt!
*
Oliver bemerkte sofort, wie besorgt Ramons Blick über Anja strich. Der Kubaner verfolgte jede ihrer Bewegungen, drehte keine Sekunde den Kopf weg und wirkte wie ein in Ketten gelegter Jaguar. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, wie viel Angst er um Anja ausstand. Offenbar war ihm keineswegs entgangen, wie schwankend sie den Saal betreten hatte.
Oliver versuchte unauffällig, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nach einigen Anläufen schaffte er es. Als Ramon ihn direkt ansah,
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