Wo immer Du bist, Darling
Seite hatte in den letzten Stunden seinen Respekt gewonnen. Nie hätte er erwartet, dass sie so zäh war. Sie war vieles, was er nicht erwartet hatte …
Er drehte den Kopf und sah absichtlich wieder geradeaus. Es war gefährlich, in welche Richtung sich sein Verhalten und Denken entwickelte. Er fasste sie viel zu bereitwillig an. Trotz seines Vorsatzes am Fluss hatte er weiterhin bei jeder Gelegenheit seine Finger auf ihr. Er schnitt eine Grimasse. Jetzt war gerade eine solche Gelegenheit. Anjas beherzte Schritte untermauerten, dass sie längst wieder allein zurechtkam. Langsam nahm er seinen Arm weg, blieb aber dicht bei ihr, denn eines hatte er über sie auch gelernt. Sie zeigte Schwäche erst, wenn sie sich partout nicht mehr verstecken ließ. Rücksichtsvoll passte er seine langen Schritte an ihre an, während sie in gemäßigtem Tempo weitergingen.
*
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie die Schlucht. Anja sah auf ihre provisorische Brücke, die man allmählich zwischen den Bäumen hindurch erkennen konnte. Unfassbar, was sich dort heute Morgen ereignet hatte. Ihr kam es wie Tage vor, seit sie in den Fluss gefallen war.
Ramon zog sie sacht zu Boden. »Bleib hier, ich gehe nachsehen, ob wir auch wirklich allein sind.«
Ehe sie ihm antworten konnte, war er in dem dichten Gestrüpp verschwunden. Kaum befand er sich außer Sichtweite, erschienen ihr die Geräusche des Waldes bedrohlich und einschüchternd. Unbehaglich kauerte sie sich zusammen. Hoffentlich blieb Ramon nicht lange weg, denn die Warterei verführte zu allerlei unheilvollen Grübeleien.
Anja zwang sich, an etwas Harmloses zu denken. Leider schob sich stattdessen der umherstreifende Bär in ihre Gedanken. Na super. Genau das brauchte sie jetzt.
*
Ramon schlich geduckt bis zum Felsvorsprung und sah sich gründlich um, bevor er einen Schritt aus der Deckung wagte.
Alles war unverändert, genau so, wie er es zurückgelassen hatte. Kein Mensch war zu sehen, keine Laute außer denen des Waldes zu hören.
Erleichtert bemerkte er, dass ein Busch die Satteltaschen vor einem Blick von der anderen Schluchtseite aus schützte. Ramon traute es Santos durchaus zu, dass er wiederholt kontrollierte, ob sie auch wirklich tot waren. Bei seinem Bruder war nichts unmöglich. Fehlende Gegenstände würden sie am schnellsten verraten, deshalb war klar, dass er das wertvolle Seil, wenn auch zähneknirschend, zurücklassen musste. Um es mitnehmen zu können, hätte er es sowieso erst auf der anderen Seite des Flusses losbinden müssen. Und nach den jüngsten Erlebnissen war er nicht gerade scharf darauf, nochmals den Baumstamm zu überqueren. Er nahm die Satteltaschen an sich und kehrte zu Anja zurück.
Offensichtlich hatte sie mit seinem plötzlichen Auftauchen nicht gerechnet, denn sie schrie leise auf. Eine Hand auf die Brust gepresst, blickte sie zu ihm hoch. »Wärst du so freundlich, dich das nächste Mal nicht so anzuschleichen? Sonst kann ich für nichts mehr garantieren.«
Er musste über ihr geschocktes Gesicht grinsen. »Ich kann nichts dafür, wenn du im Sitzen einschläfst«, gab er leichthin zurück.
»Ich habe nicht geschlafen!«, brauste sie, jede einzelne Silbe betonend, auf. »Ich habe auf dich gewartet.«
Ramon nickte zufrieden. Seine Neckerei hatte lebhafte Röte auf ihre vorher erschreckend blassen Wangen gezaubert. Besser, sie war wütend als niedergeschlagen. »Ich habe die Ausrüstung, wir können uns jetzt ein ruhiges Plätzchen für die Nacht suchen.«
Als Anja das hörte, begann ihr Gesicht zu leuchten. »Und wie lange wird das noch dauern?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke so ein, zwei Meilen sollten wir schon noch gehen …«
Ihr Lächeln sackte in sich zusammen wie ein Soufflé bei Zugluft.
»… dann können wir auch ein kleines Feuer machen«, endete er.
*
Bei dem Wort »Feuer« kam Anja eilig auf die Füße.
Ein warmes, heimeliges Feuer!
Ohne nach rechts oder links zu blicken, marschierte sie mit neu gewonnener Kraft los.
Weit kam sie nicht. Ramon packte sie ungerührt am Arm, sodass sie in einem schwungvollen Bogen gegen ihn lief und mit dem Gesicht gegen seinen Brustkorb klatschte.
Sie atmete kurz den würzigen Duft nach Harz ein, den er sich beim Streifen durch die Büsche eingefangen haben musste, dann hob sie den Kopf und blickte zu ihm hoch.
Er ließ sie los und wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Da geht es lang.« Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.
Anja
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