Wo immer Du bist, Darling
zufällig auf einer Erkundungstour entdeckt. Sie war verlassen, vermutlich wurde sie früher von Trappern genutzt. Als ich herausfand, dass es in der Nähe eine Quelle gibt, kam mir die Idee, sie als Ersatzversteck einzurichten. Es erschien mir ratsam, im Notfall ein Ass im Ärmel zu haben. Wie sich jetzt zeigt, war das nicht die schlechteste Idee.«
»Und du wolltest nicht, dass dein Bruder davon erfährt?«
»Nein. Santos und ich waren in den letzten Jahren nicht immer einer Meinung. Irgendwann wäre es wahrscheinlich sowieso zu einer Auseinandersetzung gekommen. Deine Geiselnahme hat die Sache nur beschleunigt.« Ramon holte eine kleine Petroleumlampe aus der Satteltasche, zündete sie an und drehte den Docht herab, bis sie nur noch ein schwaches Licht von sich gab, dann nahm er den Topf vom Gaskocher. Er kramte nach dem zweiten Löffel und reichte ihn Anja.
»Ramon …« Sie zögerte kurz. »Warum bist du eigentlich in ‚ La Mano de Cuba ‘? Was hat es damit auf sich?« Als sie sah, wie sich seine Miene abkühlte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum hatte sie nur davon angefangen? Jetzt würde er sich bestimmt wieder hinter seiner undurchdringlichen Mauer verschanzen.
Ramon erwiderte einige Sekunden ihren Blick, spürbar unschlüssig, wie er reagieren sollte. Sie wollte schon das Thema wechseln, da begann er zu sprechen .
»Weil ich die Organisation anfangs für eine gute Sache gehalten habe.«
Anja schloss ihren Mund und hörte gespannt zu.
»Santos und ich haben sie vor vielen Jahren ins Leben gerufen«, fuhr er, allmählich schneller redend, fort. »Sie sollte dazu dienen, das amerikanische Volk darauf aufmerksam zu machen, was seine Regierung unserem Land zufügt. Es hat niemanden interessiert, welche Armut und Verzweiflung die ewigen Sanktionen und die Isolation über die Kubaner gebracht haben. Deshalb haben wir Überfälle und Anschläge auf öffentliche Einrichtungen verübt. Wir dachten, wenn wir erst einmal die Medien auf uns aufmerksam gemacht haben, würden die Menschen verstehen und einsehen, welches Unrecht uns geschieht.
Leider konnten wir nicht ahnen, dass sich die amerikanische Presse niemals gegen die Regierung wenden würde. Wir haben so gut wie gar nichts erreicht.« Aufgebracht stippte er den Löffel in den Topf. »In den letzten Jahren wurden Santos Methoden zunehmend brutaler. Es ging ihm nicht mehr nur um die Sache, es ging ihm auch ums Geld. Er begann die Überfälle, die eigentlich nur dazu dienen sollten, Mano zu finanzieren, immer mehr auszuweiten, bis uns schließlich nichts mehr von gewöhnlichen Kriminellen unterschied.« In den grünbraunen Tiefen seiner Augen glomm ein wütendes Feuer.
»Und da hast du die Idee mit der Hütte gehabt?«
»Ja. Trotzdem dachte ich damals noch, ich könnte meinen Bruder irgendwann wieder zur Vernunft bringen. Erst nachdem er dich im Drugstore gepackt hat, ist mir klar geworden, dass er stets noch üblere Kapitel aufschlagen würde. Als sich die Situation dann immer mehr zuspitzte, habe ich beschlossen, mit dir zu verschwinden. Es tut mir leid, dass du in die Sache reingezogen wurdest.«
Anja legte eine Hand auf seinen Arm und streichelte sanft seine sehnigen Muskeln, die vor Anspannung hart wie Drahtseile hervortraten. »Ich bin froh, dass du so gehandelt hast. Du bist nicht für Santos Taten verantwortlich, Ramon.«
Er sah nicht auf, nur seine arbeitenden Wangenmuskeln zeugten von dem inneren Konflikt. »Ja, aber er ist mein Bruder, verdammt! Wer sonst könnte ihn zurückhalten? Er fackelt nicht lange mit Männern, die ihm den bedingungslosen Gehorsam verweigern.«
»Wieso denkst du, dass er sich dir gegenüber einsichtiger gezeigt hätte? Santos hat auf mich nicht gerade den Eindruck gemacht, als läge ihm viel am Leben anderer … oder an deinem.« Sie packte sein Kinn, drehte es zu sich und sah ihm in die Augen. »Du musst aufhören, Santos auf den rechten Weg bringen zu wollen. Das wirst du nie schaffen. Den Charakter eines Menschen kann man nicht ändern, Ramon, auch wenn man es noch so sehr versucht.« Erstaunt stellte sie fest, wie offen er ihrem Blick begegnete. Er wirkte verzweifelt, verwirrt zunächst, dann zunehmend unsicher. Minuten verstrichen, bevor die unheimliche Anspannung aus ihm zu weichen begann.
*
Ramon atmete tief ein. »Du hast recht«, sagte er, während ihm innerlich allmählich die Erkenntnis dämmerte. »Mein Bruder hatte schon immer einen Hang zu Gewalt und
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