Wo immer Du bist, Darling
verlieren.
Sobald die Seifenlauge kochte, tunkte sie einen Hemdlappen hinein und begann vorsichtig, den Schmutz um die klaffenden Wundränder abzuwaschen.
Ramon stöhnte und bewegte sich unruhig, wachte aber nicht auf. Anja hantierte verbissen weiter. Bis sie endlich sicher war, dass sich keine Erde oder andere Fremdkörper mehr in Nähe der Wunde befanden, standen ihr die Schweißperlen auf der Stirn. Sorgfältig verteilte sie das Penicillinpulver auf den Wundrändern. So hatte Ramon immerhin eine Chance, dass die unvermeidliche Entzündung nicht in Wundbrand mündete. Sie nahm Nadel und Faden aus dem Set, warf den Faden in die Seifenlauge und desinfizierte die Nadel mit dem Feuerzeug.
Wäre die Wunde weniger tief gewesen, hätte sie nicht genäht, aber unter diesen Umständen musste sie die Krater schließen, um den Blutverlust endgültig zu stoppen. Sie arbeitete langsam und konzentriert, wobei sie beide Unterarme auf Ramons Bein drückte, um jede mögliche Bewegung zu unterbinden.
Abschließend streute sie eine letzte Lage Penicillinpulver über die Naht. Sie prüfte das Ergebnis ihrer Arbeit. Die Fäden hielten. Sorgfältig wickelte sie mehrere Hemdstreifen um seinen Oberschenkel und wischte sich das Blut von den Händen. Mehr konnte sie für die Verletzung nicht tun. Jetzt hieß es warten.
Sie befreite Ramon aus den restlichen Kleidern und hüllte ihn vorsichtig in eine Decke. Minutenlang sah sie auf seine stille Gestalt hinab. Es war furchtbar, so nah bei ihm zu stehen und doch so weit von ihm entfernt zu sein. Seine Anwesenheit fehlte ihr. Sie betete stumm, dass er die nächsten Tage überstand und nicht an einer Infektion, Tetanus oder sonstigen grausigen Verletzungsfolgen starb.
Notgedrungen riss sie sich von seinem schmerzlichen Anblick los und legte frische Holzscheite auf das Feuer. Dann nahm sie die restlichen Decken und bettete sich neben Ramons Kopf auf den Boden. So war sie in Griffweite bei ihm, aber nicht dicht genug, um sein Bein im Schlaf unabsichtlich zu berühren.
Sie streifte die Schuhe ab und legte sich zurück. Im rotgoldenen Licht des Feuers stierte sie an die grob behauene Decke, war vor Erschöpfung todmüde und konnte doch nicht einschlafen. Ihre Gedanken kreisten endlos um das, was Ramon am Baum gesagt hatte. Der Weg nach Mariposa …
Er hatte recht, sie mussten zurück in die Zivilisation. Früher oder später würden sie an einem Punkt angelangen, von dem aus sich ihre Wege trennen konnten. Die Frage war nur, würden sich ihre Wege auch trennen?
Die Welten, aus denen sie kamen, konnten verschiedener nicht sein. Sie, die bodenständige deutsche Krankenschwester. Er, der auf der anderen Seite des Gesetzes lebende Exilkubaner. Ihre Liebe zueinander war stark und gefestigt, das wusste sie jetzt. Trotzdem hatte sie Angst davor, den Wald zu verlassen. Es ließ sich in keiner Weise vorhersagen, was dann mit ihnen geschah. Bei dem Gedanken, auch nur einen Tag ohne Ramon zu verbringen, wurde ihr sterbensübel.
Als hätte Ramon ihre sorgenvollen Gedanken gespürt, drehte er den Kopf. Unablässig begann er, mit der Hand die freie Fläche an seiner Seite abzutasten, wie auf der Suche nach etwas … auf der Suche nach ihr.
Anja schob den Arm über die Bettkante und griff nach ihm. Sofort umfingen seine Finger die ihren, schlossen sich schützend um ihre Hand. Ein Reflex, entstanden durch die Vertrautheit der letzten Tage. Brennende Furcht verengte ihre Kehle. Obwohl sie wusste, dass sie damit den möglichen Verlust nur noch grausamer machen würde, entschied sie in diesem Moment, die verbleibende Zeit an Ramons Seite bis zur letzten Faser auszukosten. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie nicht über die Zukunft nachdenken, sondern ganz und gar in der Gegenwart leben, allem Weiteren erst entgegentreten, wenn sie davor angekommen war.
Als sie diesen Entschluss gefasst hatte, spürte sie, wie sie innerlich ruhiger wurde. Sie legte sich wieder hin, ließ ihre Hand aber in Ramons. Endlich schlief sie ein.
11.
Im Fieber
Kalifornien, Sierra Nevada, 07.09.2007, 20:30 Uhr
R amon blieb den ganzen nächsten Tag ohne Bewusstsein. Anja wusste aus Erfahrung, dass das nicht die schlechteste Lösung für seinen erschöpften Körper war. Trotzdem wuselte sie wie ferngesteuert in der Hütte umher, saß immer wieder stundenlang an seinem Bett und fühlte nach seinem Puls. Sein Herz schlug wieder kräftiger und gleichmäßig schnell. Immerhin ein kleiner Fortschritt.
Besorgt
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