Wo immer Du bist, Darling
langsam humpelte sie mit ihm weiter. Diese letzten Meilen waren schlimmer als alles, was sie gemeinsam in den letzten Tagen durchgemacht hatten. Anja verlor jedes Zeitgefühl, all ihr Denken konzentrierte sich nur darauf, mit Ramon zur Hütte zu gelangen. Schweigend zerrte sie ihn weiter, trotzdem wurde er beständig langsamer. Seine Schrittlänge nahm mehr und mehr ab. Irgendwann blieb er stehen.
*
Ramon sammelte sich einen Moment, sah Anja in die Augen und versuchte, seine ganze Energie in die nächsten Worte zu legen.
»Du musst ohne mich weitergehen.« Er schluckte, brauchte seine letzte Kraft, um Atem zu schöpfen. »Es wird schon dunkel und ich halte dich nur auf …«
Anja legte ihre Finger auf seine Lippen. »Nicht sprechen, Ramon. Wir machen eine kleine Pause, damit du dich ausruhen kannst.«
Er griff nach ihrer Hand. »Nein, das geht nicht. Wir haben unsere Ausrüstung zurückgelassen und können nicht hier draußen in der Kälte bleiben. Du musst weiter.« Er räusperte sich, aber das rostige Krächzen in seiner Stimme blieb. »In der Hütte bist du in Sicherheit und kannst dich warm halten .« Bewusst sah er zu Boden. »Ich komme nach, so schnell ich kann.«
»Nein!« Anja schüttelte vehement den Kopf und drehte ihn am Arm zu sich. »Das schaffst du nicht. Du wirst hier draußen zusammenbrechen und sterben. Wir müssen beieinanderbleiben.«
Ramon blickte in ihre blauen Augen, aus denen unaufhaltsam Tränen flossen. Mühsam hob er die Hand und strich ihr mit endloser Zärtlichkeit die Feuchtigkeit von den Wangen. »Wenn du in der Hütte die oberste Schublade des Schranks aufziehst, findest du einen Kompass«, sagte er, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Es gibt auch eine Landkarte, auf der der Weg nach Mariposa eingezeichnet ist.«
Anja schüttelte den Kopf, weinte immer heftiger, aber er fuhr unbeirrt fort. »Du wirst Vorräte und Wasser einpacken und Munition … von der nimmst du alles mit.« Er hielt inne, atmete gegen die Schmerzen an. »Du musst von der Hütte aus direkt nach Westen gehen, nach ein paar Tagen endet der Wald. Bis dahin wirst du auf alles schießen, was sich bewegt. Hast du mich verstanden?«
Er drückte ihr das Gewehr in die kalten Finger und rutschte kraftlos am Stamm entlang zu Boden.
Anja ließ die Waffe fallen und sank neben ihm auf die Knie. »Ich werde nicht ohne dich gehen.« Sie schluchzte, hob den Kopf und wiederholte jede einzelne Silbe. »Ich werde nicht ohne dich gehen.« Sie legte die Hände auf seine Brust. »Wenn du also willst, dass ich zu der Hütte laufe, wirst du mich begleiten müssen.«
Ramon blickte sie ruhig an. »Du gehst ohne mich! Denn ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass die Frau, die ich mehr als alles liebe, meinetwegen stirbt.«
*
Anjas Herz tat einen Satz. Ramons Worte schwangen zu ihr, tropften zart wie Wassertropfen in ihre Seele, sprachen das aus, was unaufhaltsam zwischen ihnen gewachsen war. Sie war sich seiner Gefühle für sie nicht sicher gewesen, doch jetzt spürte sie eine Wahrheit, die ihr neues Vertrauen gab.
Sie waren so weit gekommen, weil sie einander vertrauten, weil sie aufeinander achtgaben … weil sie einander liebten. Nur so hatten sie es bis hierher geschafft und genau so würden sie es auch weiterhin schaffen.
Entschlossen nahm sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihm trotz ihrer Tränen fest in die Augen. »Und ich werde dich aus genau demselben Grund nicht hier zurücklassen.«
*
Ramon musterte Anja verblüfft, als sie mit erstaunlicher Kraft ihre Finger um seine legte. Aus ihren Augen sprach Liebe, aber auch eine Entschlossenheit, die man so einer zierlichen Person nicht zutrauen würde. Plötzlich begriff er es. Das war das Geheimnis ihres Wesens. Sie war einfühlsam und sanft, besaß jedoch eine ungeheure innere Stärke, die sich durch nichts brechen ließ. Noch nie hatte er einen Menschen wie Anja getroffen, so geradlinig und direkt, sich seines Weges absolut sicher, egal, welche Hindernisse es zu überwinden galt. Und sie hatte ihm gerade gesagt, dass sie ihn liebte. Ihn. Nicht irgendwen, sondern ihn.
Ein wärmender Funke zündete in Ramons Seele und schenkte ihm neue Hoffnung. Er musste kämpfen, er musste weiterleben. Wo auch immer diese Reise endete, er war Teil eines Wunders. Das durfte er nicht fahrlässig wegwerfen.
Er biss die Zähne zusammen und beugte sich vor, spannte ruckartig alle Muskeln an, als Anja ihn mit verzweifelter Anstrengung auf die Füße
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