Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
hatte es sie einfach nach draußen gezogen, weil sie es allein auf ihrem Zimmer nicht mehr ausgehalten hatte. Den Kragen ihres leichten Capes hochgestellt, wärmte sie sich an einer Tasse heißen Kräutertees.
Schon seltsam eigentlich. Noch vor wenigen Tagen wäre ihr niemals der Gedanke gekommen, dass sie sich ohne Sander einsam oder verlassen fühlen könnte. Immerhin hatte sie ja nun schon fast fünf Jahre Zeit gehabt, sich an diesen Zustand zu gewöhnen. Doch hier in Dvägersdal schien plötzlich alles anders zu sein.
Die Rückkehr hierher, an den Ort ihrer Kindheit, löste widersprüchliche Empfindungen in ihr aus. Einerseits fühlte es sich wie nach Hause kommen an, auf der anderen Seite fürchtete Finja sich davor, alte Wunden wieder aufzureißen.
Unwillkürlich musste sie an Audrey denken, und sie schauderte. Seit damals war kaum ein Tag vergangen, an dem sie sich nicht wegen dem, was damals geschehen war, schuldig fühlte. Wahrscheinlich war es bloß ausgleichende Gerechtigkeit, dass sich seitdem jedes Mal, wenn Finja glaubte das große Glück gefunden zu haben, irgendetwas ereignete, das alles wieder zerstörte. So war es bei Paul gewesen, und später auch bei Sander.
Vielleicht war dies ihre Strafe für das, was mit Audrey geschehen war. Und sie wusste nicht, ob sie ihre Schuld bereits abgegolten hatte.
Wie von selbst suchte Finjas Blick den Teufelsfelsen, doch er war vom Garten aus nicht zu sehen. Trotzdem beschlich sie plötzlich das durchdringende Gefühl, beobachtet zu werden, und sie bekam eine Gänsehaut. Irritiert hielt sie den Atem an. Täuschte sie sich, oder war die Temperatur schlagartig um ein paar Grad gefallen?
Das bildest du dir bloß ein!
versuchte sie sich selbst zu beruhigen, doch es half nichts. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihr ehemaliges Au-pair-Mädchen hinter sich stehen, und obwohl es vollkommen windstill war, flatterten Audreys lange Haare und ihr weites weißes Sommerkleid im Wind.
Finjas Herz hämmerte wie wild. Da legte sich plötzlich eine Hand von hinten auf ihre Schulter, und sie schrie erstickt auf.
“Hej
, Finja.”
Finja sprang auf und wirbelte herum. Doch vor ihr stand nicht Audrey, sondern ein anderer Geist aus ihrer Vergangenheit: Malin – die Person, die sie mehr als alles andere mit jener Nacht verband, in der Audrey verschwand.
Malin war vermutlich der einzige Mensch, der wirklich wusste, was damals mit Audrey geschehen war. Doch von ihr würde man wohl niemals mehr erfahren als das, was sie bereits gesagt hatte: Dass Audrey von einem Geisterwesen in den Berg gezogen worden war. Aber vielleicht hatte sie sich das alles auch nur ausgedacht – bei Malin konnte man nie wissen.
Das Lächeln, das Finja zustande brachte, war gequält. “
Hej
, Malin. Was machst du denn hier?”
“Ich wollte nach den Blumen sehen. Der neue Besitzer der Pension erlaubt mir, dass ich mich um den Garten kümmere.” Missbilligend runzelte Malin die Stirn. “Ich kann es nicht leiden, wenn die Leute ihre Gärten nicht schön machen.”
“Es ist lange her …”
Über diese Worte schien Malin erst einmal nachdenken zu müssen. Sie neigte den Kopf zur Seite, wobei sie auf einen Punkt irgendwo knapp oberhalb von Finjas rechter Schulter starrte. Sie schaute nie jemandem direkt in die Augen – es war eine dieser Eigenarten, die eine Unterhaltung mit ihr immer ein wenig unangenehm machten. Davon abgesehen war Malin eine eher unauffällige Erscheinung, weder besonders hübsch noch auffallend hässlich. Ihr blasses, ein bisschen zu schmales Gesicht war von aschblondem Haar umrahmt, das sie, so lange Finja zurückdenken konnte, stets zu einem Zopf im Nacken zusammenfasste. Und ihre hellen, wasserblauen Augen erweckten immer den Eindruck, etwas zu sehen, was sonst niemand sehen konnte. Schon früher in der Schule hatte man Malin stets nur in Jeans, karierter Baumwollbluse und roten oder blauen Gummistiefeln gesehen – ihr Kleidungsstil schien sich im Laufe der vergangenen Jahre nicht verändert zu haben.
“Ja, es ist sehr lange her. Du bist weggegangen, damals nachdem …”
“Hör auf!”, stieß Finja erschrocken aus. Sie wollte nicht über das sprechen, was damals geschehen war. Schon gar nicht mit Malin.
Wieder neigte Malin den Kopf auf diese seltsame, nachdenkliche Weise. “Du denkst auch immer noch oft an sie, nicht wahr? Siehst du sie auch manchmal?”
Ein eisiger Schauer durchlief Finja. “Sehen? Wen?”
Malin lächelte versonnen. “Du weißt, von wem ich
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