Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
zurück in den Ort zu ihrer Tante musste.
Das Zimmer direkt über dem von Finja blieb leer. Es handelte sich um den Raum, in dem Audrey einst gewohnt hatte und der seit ihrem Verschwinden nicht mehr genutzt worden war. Zuerst hatte Sander sich dort oben sein Büro einrichten wollen, weil er es merkwürdig fand, das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters zu benutzen. Doch davon hatte Finja nichts wissen wollen.
Am Anfang war es ein komisches Gefühl gewesen, nach all den Jahren wieder hier einzuziehen. Die Wände atmeten Erinnerungen. Manchmal glaubte Finja beinahe, ihre Schwester Greta wie früher die Treppe hinunterpoltern zu hören. Dann roch sie den Duft von
Mammas
berühmter
Mandeltårta
, der sich mit dem würzigen Geruch vom
Pappas
Zigarren vermischte, und vernahm das vertraute Klappern der Schreibmaschine aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Das waren die Momente, in denen ihr wirklich klar wurde, dass sie ihre Familie niemals wiedersehen würde, und in denen der Schmerz am größten war. Aber zum Glück hatte sie kaum Zeit, darüber nachzudenken. Die Notwendigkeit, die täglichen Geschäfte ihrer Galerie von nun an von Dvägersdal aus zu regeln, stellte sie vor eine echte Herausforderung. Sie versuchte per E-Mail und Telefon so viele ihrer Aufgaben wie möglich zu erledigen, war sich aber durchaus der Tatsache bewusst, dass die größte Arbeitslast auf den Schultern ihrer Assistentin Kelly in New York lastete. Zum Glück war Kelly für sie viel mehr als eine Angestellte. Sie war eine Vertraute, und Finja wusste, dass sie auf sie zählen konnte.
Sie zweifelte nicht daran, dass es Sander mit seiner Firma ganz genauso erging. Nein, mit Sicherheit hatte er sogar noch viel mehr Probleme als sie. Und dann war da ja schließlich auch noch Linus, dem sie so viel ihrer Zeit widmeten, wie sie nur konnten.
“Was ist, Kleiner, hat du Lust, nach dem Frühstück im Garten ein paar Bälle mit mir zu kicken?”, hörte sie Sander fragen, der sich gerade eine Tasse Kaffee einschenke.
Finja nahm die
Havregrynsgröt
vom Herd und trat zu den beiden an den Tisch. “Ich finde, das ist eine tolle Idee”, wandte sie sich mit einem aufmunternden Lächeln an Linus. “Du spielst doch gern Fußball, oder?”
Linus starrte schweigend auf seinen Teller. Als er schließlich sprach, schwammen seine großen blauen Augen in Tränen. “Mein
Pappa
hat immer mit mir gespielt.” Er schluckte hart. “Ich will mit
Pappa
spielen!” Dann sprang er plötzlich auf und stürmte zur offen stehenden Küchentür hinaus. Susanna, die gerade eintreten wollte, sprang hastig zur Seite.
“Huch!”, rief sie überrascht. “Das war aber eine stürmische Begrüßung. Was ist denn passiert?”
Sander seufzte. “Ach, ich fürchte, ich habe das falsch angefangen.” Er nahm das
Svenska Dagbladet
, das auf dem Tisch lag, und schlug die Zeitung auf. “Es ist im Moment einfach alles sehr schwer für Linus. Er hat gerade erst begriffen, dass seine Eltern wirklich nicht mehr zurückkommen. Wir müssen Geduld mit ihm haben, dann wird sich schon alles finden.”
“Wie kannst du das so auf die leichte Schulter nehmen?”, fragte Finja verständnislos. Ihr zerriss es schier das Herz, den Kleinen so leiden zu sehen. “Sollte ich nicht doch lieber nach ihm sehen?”
“Bloß nicht!” Es war Susanna, die auf ihre Frage antwortete. Sie strich sich durch ihr langes dunkelbraunes Haar. “Es geht mich zwar nichts an, aber ich denke, Ihr Mann hat ganz recht: Linus braucht jetzt einfach Zeit, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Trauer ist etwas, mit dem man zu allererst allein fertig werden muss.”
Was das betraf, war Finja gänzlich anderer Ansicht. Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie ihre Eltern mit Audreys mysteriösem Verschwinden umgegangen waren. Kaum hatte die Polizei die Ermittlungen eingestellt, waren Finjas Eltern wieder zur Tagesordnung übergegangen. Über Gefühle wurde nicht gesprochen. Das Thema Audrey war tabu – fast so, als hätte das englische Au-pair-Mädchen niemals existiert.
Wie oft hatte Finja sich danach gesehnt, mit jemandem über ihre Sorgen und Probleme reden zu können? Doch stattdessen waren Greta und sie aufs Internat geschickt worden. Auf keinen Fall wollte Finja, dass es dem kleinen Linus nun ebenso erging, aber sie behielt ihre Meinung für sich – vorerst. Vielleicht hatte Susanna ja doch recht, und sie ließ sich aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit zu übertriebener Fürsorge hinreißen.
Denn eines
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