Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
spreche. Audrey.”
“Ich …” Finja schluckte heftig, doch der Kloß in ihrem Hals wollte einfach nicht verschwinden. “Ich weiß nicht, wovon du redest. Audrey ist …”
“Das mit deiner Familie tut mir sehr leid”, wechselte Malin abrupt das Thema. “Nur der kleine Junge deiner Schwester ist noch am Leben, oder? Was wird nun aus ihm?” Sie seufzte abwesend. “Ich hab ihn schon ein paar Mal gesehen. Ich mag ihn. Er hat keine Angst vor mir wie die anderen Kinder. Ich glaube, er ist etwas ganz Besonderes.”
Das ist er wirklich, dachte Finja und kämpfte die Tränen zurück, die ihr prompt in die Augen traten. “Testamentarisch wurde uns die Vormundschaft für Linus übertragen – meinem Mann Sander und mir.” Sie wusste selbst nicht, warum sie ausgerechnet mit Malin darüber sprach. Das war verrückt – vollkommen verrückt –, und trotzdem redete sie weiter: “Aber ich weiß nicht, ob wir das wirklich schaffen können. Ob wir …”
“Du machst das schon”, fiel Malin ihr ins Wort, und sie sprach mit einer Überzeugung, die keinen Widerspruch duldete. “Ich weiß es.” Plötzlich fing sie an, leise vor sich hin zu summen. “Hast du die Osterglocken gesehen? Sie blühen herrlich dieses Jahr …” Ohne Finja noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie sich ab und ging hinaus in den Garten, der an die Terrasse der Pension grenzte. Kopfschüttelnd blickte Finja ihr hinterher.
“Ach, hier draußen bist du.” Erst jetzt bemerkte Finja, dass Sander zu ihr auf die Terrasse getreten war. “War das nicht gerade …?”
“Malin.” Sie schlang die Arme um den Körper. “Du warst lange weg.”
“Ich habe nachgedacht.” Er zog sich einen weiteren der weißen Holzstühle heran, und sie setzten sich. “Und ich glaube, ich muss mich dafür entschuldigen, wie ich vorhin reagiert habe. Es war nicht fair, dir Vorwürfe zu machen. Dich hat die ganze Sache beim Anwalt mindestens ebenso überrascht wie mich. Außerdem …” Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Ich denke, wir sollten es tun. Deine Schwester und ihr Mann wollten nicht, dass Linus bei seinen Großeltern aufwächst. Sie werden ihre Gründe dafür gehabt haben – das sollten wir respektieren.”
Völlig perplex starrte Finja ihn an. “Ist das … dein Ernst?”
Sie konnte kaum glauben, dass Sander tatsächlich in die Bedingungen des Testaments einwilligen wollte. Seine erste Reaktion war so ablehnend gewesen, dass ihr nun vor Erleichterung fast ein Stein vom Herzen fiel. Zugleich stellte sich ihr aber auch die bange Frage, ob sie dem kleinen Linus überhaupt eine gute Mutter sein konnte.
Sie besaß keinerlei Erfahrung mit Kindern. Und hatte noch dazu genügend eigene Probleme. Und trotzdem, irgendwie würde es gehen. Du schaffst das schon, hatte Malin vorhin gesagt, und Finja wusste instinktiv, dass es stimmte. Sie würde für den Fünfjährigen sorgen, sich um ihn kümmern und ihm alle Liebe und Zuneigung schenken, die sie in sich trug. Doch da war noch eine zweite, ungleich größere Angst. Und zwar davor,
zu
glücklich zu werden. Ihr kleiner Neffe vermochte vielleicht die entsetzliche Leere in ihrem Leben wieder zu füllen. Aber was, wenn irgendeine höhere Macht entschied, dass sie noch nicht genug für die Sache mit Audrey gebüßt hatte?
Mit einem Mal brach sich all die Anspannung der letzten Tage ihre Bahn. Als Finnja spürte, wie ihr die Tränen kamen, sprang sie auf und wollte ins Haus laufen, doch Sander hielt sie zurück und zog sie in seine Arme.
Es war ein seltsames Gefühl, so fremd und doch so vertraut und tröstlich. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an seine Schultern, das Gesicht an seiner breiten Brust geborgen. Sie konnte sein Herz klopfen hören, atmete seinen unverwechselbaren Duft ein und spürte die Wärme seines Körpers.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Doch auf seltsame Art und Weise verstärkte das ihre Einsamkeit sogar noch, denn Finja wusste, dass dieser kostbare Moment nicht ewig andauern konnte.
Und danach würde sie sich noch verlassener fühlen als jemals zuvor in ihrem Leben.
4. KAPITEL
G oldenes Sonnenlicht fiel durch die Sprossenfenster in die gemütliche Essküche, die einst das Reich von Finjas Mutter gewesen war. An den Wänden hingen Landschaftsaquarelle mit Motiven aus der Umgebung: blühende Sommerwiesen, hohe Berge und immer wieder die dichten Wälder. Direkt über dem Herd befand sich, zusammengehalten von einem roten
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