Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
St. Petersburg hat sich in den Kopf gesetzt, dass ausgerechnet du …«, sie hielt inne und schaute Sophie kopfschüttelnd an, »also dass du die Richtige wärst, um ihre Freunde dort dazu zu bewegen, dass sie ihre Töchter hierherschicken. Freunde, die offenbar genauso reich sind wie sie.« Mrs Sharman nahm ihre Brille ab. »Sie hat mir viele Fragen über dich gestellt. Und irgendwie war sie ganz fasziniert – oder vielmehr geradezu begeistert – von deiner Mittellosigkeit.« Mrs Sharman schüttelte ratlos den Kopf. »Ehrlich gesagt habe ich mich gefragt, ob sie überhaupt verstanden hat, was ich ihr gesagt habe! Wie auch immer, ich werde dich also mit nach St. Petersburg schicken, Sophie Smith, auch wenn es gegen jede Vernunft ist.«
Sophie stand stocksteif da und wagte kaum zu atmen. Hatte sie sich verhört oder was? Sie ballte die Fäuste und bohrte ihre Finger in die Handflächen.
»Natürlich ist es ein schwerer Fehler, das ist mir klar«, fuhr Mrs Sharman fort, »und deshalb schicke ich Marianne und Delphine mit, zwei Mädchen, die unserer Schule wirklich Ehre machen und ein gutes Aushängeschild sind.«
Auf dem Weg zurück in die Französischstunde sonnte Sophie sich ein paar Schritte lang in dem Gedanken, dass zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Wunderbares, Magisches passiert war. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
Die Sache hatte nur einen Haken. Einen verdammt großen Haken.
Rosemary.
Sophie war zu Recht pessimistisch gewesen. Die Unterlagen für die Russlandreise kamen in einem großen braunen Umschlag zurück, und an das oberste Blatt war eine Notiz von Rosemary geheftet: Ist mir nicht möglich. Viel zu teuer. Mit einem anderen Stift hatte sie hinzugefügt: Bin den größten Teil der Schulferien außer Landes. Lass dich von einer Freundin einladen.
Sophie stopfte den Umschlag in ihre Nachttischschublade, dann legte sie sich auf ihr Bett und starrte in den bleiernen Himmel. Sie konnte verstehen, dass Rosemary kein Geld für die Russlandreise ausgeben wollte. Für ihren Unterhalt war nicht viel da und das meiste floss in ihre Schulgebühren. Die Schule stand für Rosemary an erster Stelle, schon weil sie dann nicht so viel Zeit mit Sophie verbringen musste.
Wie anders wäre alles gewesen, wenn … Aber nein, Sophie wollte jetzt nicht an ihren Vater denken. Er war tot und nichts und niemand würde ihn zurückbringen.
Seufzend rückte sie das Foto auf dem Fenstersims gerade. Tag für Tag rief sie sich alles in Erinnerung, was sie noch von ihm wusste, aber sein Bild verblasste allmählich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Und wenn sie an ihn dachte, war es fast, als ob sie sich an einen Traum erinnerte. Nur manchmal stieg plötzlich ein Bild in ihr auf, wie sie auf seinen Schoß kletterte und ihren Finger in das Grübchen in seinem Kinn legte. Oder ihr fielen ein paar Zeilen von einem Lied ein, das er ihr im Auto vorgesungen hatte, und wie er ihr lachend das Gesicht abwischte, als sie sich mit Ketchup die Lippen angemalt hatte. Aber sie konnte diese Erinnerungen nicht heraufbeschwören, ohne dass sie ihr irgendwie verfälscht erschienen. Und sie erinnerte sich kaum noch an seine Stimme. Auch an die Nacht, in der ihr Vater gestorben war, hatte sie keine Erinnerung. Was sie wusste, stammte von Rosemary, die sie Jahre später einmal beim Telefonieren belauscht hatte. Und da hatte Rosemary erzählt, dass es dunkel gewesen war und geregnet hatte und dass ihr Vater mit einem Mietwagen zu einer Dichterlesung gefahren und auf dem Heimweg verunglückt war.
»Hast du deinen Antrag schon eingereicht?«, fragte Delphine, die ins Zimmer zurückgekommen war, weil sie ein Übungsheft vergessen hatte. Sie nahm es aus ihrem Regal und stopfte es in ihre megagroße Chanel-Umhängetasche.
»Nein«, murmelte Sophie. Dass ihre beiden besten Freundinnen nach St. Petersburg fahren würden, obwohl sie gar keine Lust dazu hatten, machte die Sache noch viel schlimmer. Delphine jammerte die ganze Zeit über die Kälte, die sie dort erwartete, und Marianne behauptete, dass ihr die Romane von Thomas Hardy tausendmal lieber wären als alle russischen Sehenswürdigkeiten.
Delphine zog eine Augenbraue hoch.
»Es ist wegen Rosemary«, murmelte Sophie. »Ich brauche ihre Zustimmung und die gibt sie mir nicht.«
Delphine streckte ihre Hand aus. »Gib mir den Antrag.«
Sophie reichte ihr den Umschlag und Delphine nahm einen Stift aus ihrer Tasche.
»He, spinnst du? Das kannst du doch nicht machen!«, stieß
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