Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
die Straßen zogen, auf den Zwiebeltürmen der Kirchen oder in den Parks der prunkvollen Barockschlösser.
Zwanzig englische Schulmädchen standen unter der großen Uhr im St. Petersburger Bahnhof Moskowski Woksal und warteten auf ihre Gastfamilien. Sie waren frühmorgens von London aufgebrochen und waren nun ziemlich erschöpft nach dem langen Flug und der aufregenden Taxifahrt quer durch die Stadt.
Miss Ellis, die Russischlehrerin, klatschte in die Hände. »Also, Leute, jetzt sind wir in Russland«, verkündete sie so laut, als müsste sie zu riesigen Mengen sprechen und nicht nur zu einer Gruppe von Schulmädchen. »Denkt immer daran – und das gilt besonders für dich, Nadine …« Streng funkelte sie eine Sechstklässlerin an, die ihr Haar zu einem Marie-Antoinette-Knoten aufgesteckt hatte und gelangweilt an ihrem silbrigen Nagellack herumkratzte, »dass ihr die Botschafterinnen eures Landes seid! Und nicht nur das – ihr seid auch das Aushängeschild für eure Schule. Also benehmt euch anständig.«
Sophie hörte kaum hin. Botschafterin ihres Landes, das fiel ihr im Traum nicht ein. Sie war in St. Petersburg! Sie war tatsächlich hier! Und draußen vor dem Bahnhof tobte ein Schneesturm. Mit richtigem, echtem Schnee. Ein wildes, magisches Wetter statt des ewigen Londoner Schmuddelregens. Und der Bahnhof selbst war so schön und prunkvoll wie ein Palast. Sophie war bereits jetzt ganz verzaubert, als sei sie an einem verwunschenen Ort voll ungeahnter Möglichkeiten gelandet.
Neugierig blickte sie sich in der überfüllten Bahnhofshalle um. Die Männer trugen Pelzmützen und ihre Gesichter sahen im grellen Neonlicht so rosa wie gepökeltes Schweinefleisch aus. Die Frauen wirkten hochmütig und blasiert in ihren langen Pelzmänteln, waren aber sehr glamourös und exotisch anzusehen mit ihren grell geschminkten Lippen und dem dicken schwarzen Lidstrich. Junge Soldaten in dicken Mänteln schlenderten durch die Menge, mit sauber geschrubbten Gesichtern und schlaftrunkenen Augen. Sie trugen schwere schwarze Maschinengewehre an Lederriemen über der Schulter.
Als die Menge sich teilte, fiel Sophies Blick auf eine Frau im Bahnhofscafé, die wunderschön, aber ziemlich auffällig gekleidet war. Sie trug einen langen, raffiniert gemusterten Strickmantel mit hohem Pelzkragen. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen im Bahnhof trug sie keine Mütze. Ihr kurz geschnittenes Haar, das sich wie Blütenblätter um ihre hohen Wangenknochen ringelte, war tiefschwarz und fast so glänzend wie ihre hohen Lackstiefel. Alle paar Sekunden schaute die Frau auf ihre Uhr und verglich dann die Zeit mit der Bahnhofsuhr über Sophies Kopf. Sophie staunte über ihre Konzentration. Was beschäftigte die Frau so intensiv, dass sie ständig die Zeit kontrollieren musste? Vielleicht war sie eine Gräfin, die Geheimnisse schmuggelte, die jeden Moment in einen Zug steigen und durch verschneite Wälder zu einem gefährlichen Treffen mit ausländischen Agenten fahren würde? Oder war sie auf dem Weg zu einem neuen Job in einer Astronautenbasis, wo sie mutige junge Russen auf ihre Reise ins All vorbereitete? Gebannt schaute Sophie zu, wie die Frau ein winziges Tässchen an ihre Lippen hob, und plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht sogar eine berühmte Ballerina war, die einfach ein wenig Anonymität genießen wollte, weit weg von den Begeisterungsstürmen ihres Publikums und ihrem anstrengenden Tanztraining?
Delphine, die einen schicken silbergrauen Tweedmantel trug, dazu einen weichen Seidenschal um den Hals und einen grauen Männerhut, den sie tief in ihre blonden Locken gedrückt hatte, streckte gerade ihre Fußspitze vor und fotografierte ihren Schuh.
Marianne, im marineblauen Schulmantel und mit Jeans und Turnschuhen, stieß Delphine in die Rippen. »Warum fotografierst du deine Füße?«
»Für mein visuelles Tagebuch«, erklärte Delphine. »Meine Schuhe sehen doch toll aus, oder findet ihr nicht? Mit dem Fischgrätenmuster von meinen Strumpfhosen? Wenn wir nach London zurückkommen, mache ich einen Film daraus.«
»Von deinen Füßen?«, wiederholte Marianne kopfschüttelnd und wedelte mit ihrem Reiseführer vor Delphines Nase herum. »Ich fass es nicht – du willst einen Film von deinen Füßen machen, wo es hier ›den ganzen Prunk und Pomp der Zaren‹ zu sehen gibt?«
Sophie holte ihren Reiseplan aus dem Rucksack. Ihre Gastgeberin hieß Dr. Galina Starowa. Das klang gut. Ein edler Name. Wie
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