Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
genug.
Delphine schauderte. »Macht nichts, Sophie«, sagte sie tröstend. »Ich kann dir was von meinen Sachen leihen, das hab ich dir ja schon gesagt.« Dann schaute sie zu Marianne hinüber und fragte missbilligend: »Hast du überhaupt schon mit Packen angefangen?«
»Mach bloß keinen Stress!« Marianne warf sich der Länge nach auf ihr Bett und schlug einen Reiseführer von St. Petersburg auf. »Das Einzige, was man wirklich auf eine Reise mitnehmen muss, ist ein fröhliches Lächeln«, fügte sie hinzu und grinste Delphine über die Seiten hinweg an. »Sagt meine Mutter jedenfalls immer.«
»Ja klar – ich seh’s direkt vor mir, wie du über den roten Teppich stolzierst«, sagte Delphine. »Splitternackt und mit einem irren Grinsen im Gesicht.«
Sie ignorierte das Buch, das knapp an ihrem Kopf vorbeiflog, und verstaute seelenruhig mehrere Schuhschachteln in Sophies Rucksack, dann legte sie Sophies Kleider vorsichtig obendrauf. »Was ist das denn?«, fragte sie plötzlich und hielt einen altmodischen hölzernen Griffelkasten hoch. Neugierig schob sie ihren Fingernagel in die winzige Mulde und ließ den Deckel seitlich aufgleiten.
»Ach, nur so … Zeugs«, sagte Sophie. »Das kommt in meinen Rucksack.«
Delphine nahm einen schweren goldenen Manschettenknopf heraus.
»Von meinem Dad«, murmelte Sophie.
Als Nächstes kam ein kleines Stück Spitze zum Vorschein. »Das muss von einem Sommerkleid von meiner Mutter stammen«, erklärte Sophie.
Delphine legte die Sachen behutsam in das Kästchen zurück. »Und das hier?«, fragte sie und faltete ein Stück Papier auseinander, das aussah, als sei es aus einer Zeitschrift herausgerissen worden. Ein großer, tropfenförmiger farbloser Stein an einer alten Schnur lag darin. Der Stein sah aus wie ein schmutziger Glastropfen.
»Weiß ich auch nicht wirklich«, gab Sophie zu. »Es hat meinem Dad gehört. Er hat es immer ans Licht gehalten und plötzlich waren lauter Farben drin.«
»Prisma«, sagte Marianne.
»Was?« Delphine hielt den Anhänger hoch und sofort sprühten kleine Lichtfünkchen daraus hervor.
»Lichtbrechung!«, dozierte Marianne. »Wenn das Licht in seine Bestandteile zerfällt. Wie bei einem Regenbogen. Passt ihr eigentlich nie auf in Physik?« Sie verstummte einen Augenblick und fügte hinzu: »Sieht ein bisschen wie mein Druiden-Glücksstein aus.«
»Mon Dieu«, murmelte Delphine. »Wie kann man nur so schlau und trotzdem so abergläubisch sein?« Dann hielt sie sich den Anhänger ans Ohr. »Würde aber einen schönen Ohrring abgeben.«
»Ja, bloß dass es nur einen davon gibt«, seufzte Sophie und setzte sich auf ihr Bett. »Ich hab nichts Vollständiges. Nichts, was zusammenpasst. Rosemary hat die meisten Sachen von meinen Eltern bei einer ihrer Entrümpelungsaktionen weggeworfen.«
»Sei nur froh, dass sie dich nicht gleich mit rausgeworfen hat«, sagte Marianne, um die anderen zum Lachen zu bringen. Aber ihr Aufmunterungsversuch ging voll daneben. »Tut mir leid«, murmelte sie kleinlaut.
»Manchmal sehn ich mich so danach, irgendwohin zu gehören«, flüsterte Sophie. »Ich weiß ja gar nicht, wie das ist, eine richtige Familie zu haben …«
Betretene Stille machte sich breit, dann sagte Delphine leise: »So darfst du nicht denken, Sophie. Es ist auch okay, wenn man allein ist. Dafür bist du was ganz Besonderes. Ein Solitär.«
Sophie lächelte tapfer, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. Wenn sie von ihren Eltern redete, spürte sie den Verlust noch schmerzlicher als sonst. Sie nahm Delphine das Kästchen ab, wickelte den Anhänger in die Zeitschriftenseite und legte ihn behutsam in das Kästchen zurück. Ihr Vater hatte immer von einer Zauberreise gesprochen und dabei wahrscheinlich an einen fliegenden Teppich oder eine Zeitmaschine gedacht. Daraus würde nun nichts mehr werden, aber wenigstens wollte Sophie die paar Sachen, die sie noch von ihm hatte, mit nach St. Petersburg nehmen. Damit er immer dabei war – auf ihrer eigenen Zauberreise.
Und bald war es so weit. Ihr Traum ging in Erfüllung. Zum ersten Mal ließ Sophie den Gedanken zu – ließ ihn wirklich tief in sich einsinken. Russland. Wintermärchen. Gewaltige Eisschollen, die auf dem tintenschwarzen Neva-Fluss dahintrieben. Revolutionen und Zarenmorde. Die Geschichte von dem Dichter, der sich im eisigen Morgengrauen wegen seiner flatterhaften jungen Frau duellierte. Und überall Schnee, Schnee, Schnee – unter den Hufen der Pferde, die ihre Schlitten durch
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