Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
erzählte Ivan. »Und die Ahnenporträts waren die einzigen Zeugen dieser schändlichen Tat.«
Sophie schnappte nach Luft und ihr Herz klopfte wild.
»Das ist ja schrecklich«, sagte Delphine betroffen.
»Als die Soldaten ihre Gewehre angelegt haben«, fuhr Ivan fort, »soll der Prinz allen eine Zigarette angeboten und gelacht haben.«
»Das war aber nicht sehr klug von ihm«, sagte Marianne.
»Nicht klug?« Ivan warf ihr einen gekränkten Blick zu. »Er war der leidenschaftlichste, intelligenteste Mann, der je gelebt hat! Ein Dichter. Musiker. Mathematiker. Und deshalb konnte er nur lachen, als sie die Gewehre auf ihn anlegten. Denn der Prinz wusste, dass er nicht umsonst sterben würde: Er hatte seiner jungen Frau die Zeit verschafft, mit ihrem Kind in den Wald zu fliehen.«
»Dann hat er es also getan, um sie zu retten?«, sagte Sophie. »Aber grässlich ist es trotzdem. Die Prinzessin wusste doch, dass er sterben würde, als sie aus dem Palast geflohen ist, und dass sie ihn nie wiedersehen würde.«
Noch während sie ihren Satz zu Ende brachte, fiel ihr die verhüllte Gestalt ein, die durch einen vereisten Wald irrte. Aber war es ein Traum – eine Vision – oder nur eine Erinnerung an die Geschichte ihres Vaters? Je mehr Sophie das Bild in ihrem Gedächtnis heraufzubeschwören versuchte, desto undeutlicher wurde es, verschwamm ihr vor den Augen und löste sich in nichts auf, so wie der Palast sich aufgelöst hatte.
»Nein, nicht grässlich«, widersprach Ivan. »Heldenhaft. Nobel.«
Er trat vor eine geschnitzte Flügeltür, deren Holzfüllung vernarbt und mit Löchern übersät war. Sophie betrachtete neugierig die kleinen Täfelchen auf den Türflügeln, die lauter junge Mädchen in langen Gewändern und mit Flöten in den Händen zeigten. Der Messinggriff war wie eine Tierklaue geformt. Ivan griff in seine Tasche und holte einen zweiten Schlüssel hervor, der viel kleiner war als der für die Eingangstür. Der Schlüssel war dunkel und rostig und wollte zuerst nicht richtig ins Schloss passen. Leise vor sich hin murrend fummelte Ivan an dem Schlüssel herum, bis die Türflügel aufschwangen.
»Es ist nicht das größte Schlafzimmer im Palast, aber ihr werdet es hier bequem haben.«
Der Raum war früher vielleicht prächtig gewesen, aber er hatte viele Jahre leer gestanden und war wie der restliche Palast dem Verfall und Vergessen preisgegeben. Er enthielt drei schmale Eisenbetten, die mit Pelzdecken und sauberen, dicken Kissen hergerichtet waren, und auf jedem Bett lag ein Kleiderstapel bereit, mit einem weißen Blatt obendrauf, auf dem ein Name stand. Die Namen waren in lateinischen Buchstaben geschrieben, aber die Schrift sah fremdartig aus, sehr schwungvoll, mit lauter Schleifen und Kringeln. Sophies Bett stand direkt am Fenster, so wie im Internat. Zwischen den drei Betten waren kleine Nachttischchen aufgestellt. Ein paar Stühle standen kreuz und quer in dem leeren Raum herum, und an einer Wand lehnte ein langer, schlichter Spiegel mit einem Sprung, der an der Seite herunterlief.
Ivan sah, wie Delphine stirnrunzelnd die Kleiderstapel musterte, und sagte schnell: »Dein Gepäck bringe ich dir heute Nachmittag, kleine Delphine. Aber keine Angst, du brauchst deine Sachen im Moment sowieso nicht. Die Prinzessin wünscht ihre Gäste verkleidet zu sehen. Und ihr werdet ihr doch sicher den Gefallen tun wollen.« Er verneigte sich und fügte hinzu: »Ich bin gleich wieder da.«
Delphine wartete, bis Ivan die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann sagte sie: »Ich kann doch der Prinzessin nicht unter die Augen treten, bevor ich meine Sachen wiederhabe. Das geht einfach nicht.«
Marianne zerrte ihre Robbenfellhandschuhe herunter. Mit abwesendem Gesicht starrte sie auf ihre Hände, als hätte sie sie noch nie gesehen, und ließ sich auf ihr Bett sinken. Knarzend und quietschend gab das rostige Metall unter ihrem Gewicht nach.
»Wir müssen uns gegenseitig beim Umziehen helfen«, sagte Sophie und nahm das Namensblatt von Mariannes Stapel. »Ivan hat uns in diese Mäntel gepackt und jetzt ist er nicht da, um uns wieder rauszuhelfen.«
Delphine zerknüllte ihren Namenszettel und streichelte nachdenklich den schweren, prächtigen Stoff, der darunter zum Vorschein kam. »Die Sachen sind uralt«, verkündete sie. »Wem die wohl gehört haben? Vielleicht einer der Volkonski-Prinzessinnen?«
Oder sogar der letzten Volkonski-Prinzessin?, dachte Sophie. Die junge Frau hatte den Palast mit ihrem Kind
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