Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
brüllte Ivan in den Wind.
Und schon waren sie auf dem vereisten Kanal. Der vozok glitt wie auf Flügeln dahin. Sophie hörte das Trommeln von Viflijankas Hufen auf dem Eis. Komisch, dass er nicht ausrutscht – er muss Spikes an den Hufen haben, dachte sie. Als sie endlich aufzuschauen wagte, zeichnete sich der Palast am Ende der Eisstraße ab.
Sophie prägte sich alles ganz genau ein. Diesen Moment wollte sie in Erinnerung behalten, für immer und ewig. Den Moment, in dem sie zum ersten Mal den Winterpalast der Volkonskis vor sich gesehen hatte.
Er glich einem griechischen Tempel: elfenbeinweiß mit schlanken Säulen, die an der Vorderseite entlangliefen, wie Gitterstäbe an einem Käfig. Die Wirkung war überwältigend: zart und zerbrechlich, fast wie ein Skelett, und der Palast schwebte gleichsam am Ende der Eisstraße, als könne er sich jeden Moment in Luft auflösen.
Was für ein sonderbarer Ort! Wie mutig oder verrückt musste man sein hier einen Palast zu erbauen, in einer Welt, die nur aus tiefstem Winter bestand? Aber Sophie gefiel diese Verrücktheit. Ihr Vater hatte ihr mal erzählt, wie er sein ganzes Auto mit Rosen vollgestopft hatte, um ihrer Mutter einen Heiratsantrag zu machen. Er war an dem Haus vorgefahren, in dem sie zusammen mit Rosemary wohnte, und hatte die Blumen auf die Türschwelle getürmt. Es war verrückt, dumm, lächerlich. Und doch … Sophie lächelte still vor sich hin. Ihr Vater hätte diesen Palast geliebt, das wusste sie, schon weil er mitten im Nirgendwo stand.
»Na? Seht ihr ihn?«, schrie Ivan. »Was sagt ihr dazu, Mädchen?«
Marianne und Delphine kauerten immer noch unter ihren Pelzdecken.
»Wie ein Zauberschloss!«, brüllte Sophie zurück. Und dann lachte sie. Der Palast sah wirklich aus, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht, von einem Zauberspruch aus dem Boden heraufbeschworen.
Endlich erreichten sie das Ende der Eisstraße. Viflijankas Halsmuskeln wölbten sich vor Anstrengung, als er den vozok die flache Böschung hinaufzog. Hier, im Tiefschnee, der an den Schlittenkufen haftete, musste er im Schritttempo weitergehen.
» Hajiiiiii! « Ivan zog Viflijankas Kopf herum. Nach kurzem Kampf fügte sich das Pferd und trabte gehorsam über den Schnee auf die Flügeltür des Palastes zu. Jetzt, aus der Nähe, konnte Sophie erkennen, dass die imposante Fassade, die von weitem so schön gewirkt hatte, stark beschädigt war. Die Farbe blätterte von dem rissigen Stuck ab, viele Fenster waren zugenagelt, nachdem die Scheiben wahrscheinlich längst zerbrochen waren.
Verwirrt rieb sich Sophie die Augen. Bei näherem Hinsehen hielt der Palast nicht, was er versprochen hatte. Es war ein wenig wie in dem kurzen Moment, bevor ein Traum endet und alles wieder verschwindet, um der grauen Wirklichkeit Platz zu machen. Wie traurig, dass dieser schöne, verwunschene Palast so heruntergekommen war – und dass selbst dieser grandiose Traum sich als verschlissenes, schäbiges Gespinst entpuppte.
Ivan sprang vom Kutschbock herunter und ging dabei tief in die Hocke. Dann stapfte er zu Viflijanka herum, tätschelte ihm den Hals und streichelte seine auf und ab wippende Nase. Er redete mit dem Pferd, als könne es jedes Wort verstehen. Schließlich streckte er seine Hand aus und half den Mädchen vom Schlitten herunter.
Delphine und Marianne standen da wie angewurzelt, noch ganz benommen von der Kälte und der wilden Fahrt. Neben Ivan sahen sie unglaublich jung und klein und zerbrechlich aus. Aber Sophie hätte ewig im vozok weiterfahren können. Neugierig ließ sie ihren Blick über die Eisstraße wandern, dann zum Wald hinüber. Wie groß die Ländereien der Volkonskis wohl sein mochten? Vielleicht konnte sie Ivan dazu bringen, eine Rundfahrt mit ihnen zu machen?
»Es stimmt, was ich vorher über Viflijanka gesagt habe«, lächelte sie, als Ivan ihr die Hand hinhielt. »Er ist wirklich ein schönes Pferd.«
Ivan legte einen Finger an die Lippen. »Psst. Keine Komplimente in seiner Gegenwart! Der alte Kerl wird mir sonst zu eitel!«
Jetzt sprang der Junge von seinem Sitz herunter und nahm den Kopf des Pferdes. Er starrte Sophie herausfordernd an. Sophie zog ihren Schal herunter und schenkte ihm ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es freundlich war. Der Junge öffnete den Mund, als wollte er erneut das Wort an sie richten, aber dann sah er, dass Ivan ihn beobachtete, und überlegte es sich anders. Er nahm die Zügel, zog den Kopf des Pferdes herum und führte es vom Portikus
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