Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
weg in den Schnee hinunter.
»Auf dem Rückweg galoppiert er immer schneller als auf dem Hinweg«, erklärte Ivan. »Weil er weiß, dass es in den Stall zurück geht.«
Und der Junge?, dachte Sophie. Wohin geht der? Beschämt und traurig schaute sie dem Jungen und dem Pferd nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Am liebsten wäre sie hinterhergelaufen. Dann hätte sie helfen können den braven Viflijanka aus dem vozok auszuspannen, seine Box mit frischem Stroh aufzuschütten, um es ihm gemütlich zu machen. Stattdessen musste sie jetzt vor die Prinzessin treten und Smalltalk machen. Seufzend wandte sie sich ab. Schade, dass sie die Prinzessin nicht Delphine überlassen konnte.
Vor dem Eingangstor hatten sich tiefe Schneewehen aufgetürmt. Ivan zog einen riesigen Eisenschlüssel aus den Falten seines Schaffellmantels hervor und steckte ihn ins Schloss. Er musste ihn mit beiden Händen umdrehen. Dann trat er mit aller Kraft gegen das Tor, dass der Schnee nur so von seinen Stiefeln flog, und die Türflügel schwangen auf.
Ivan trat zur Seite und hielt die Hand hin, so wie er es im Zug gemacht hatte. »Willkommen im Winterpalast der Volkonskis«, sagte er feierlich. »Willkommen zu Hause!«
Die drei Mädchen kletterten über die vereisten Schneewehen und betraten den Palast. Hinter ihnen fiel das Tor mit einem dumpfen, hallenden Geräusch ins Schloss, als sollte alles ausgelöscht werden, was bis dahin geschehen war.
Ivan hatte von »einem Diamanten im Schnee« gesprochen, und Sophie hatte dabei an riesige, frostweiße Räume, an eine kalte, glitzernde Pracht gedacht. Aber so war es nicht. Im Inneren entpuppte sich der Palast als ein Ort der Schatten, des Dämmerlichts, alles spinnwebfarben überhaucht. Nach dem eisigen, rauen Wind im Park draußen schlug ihnen hier stickige Moderluft entgegen – es roch nach Staub und verschlissenen alten Stoffen, als sei hier seit Jahrzehnten kein Fenster mehr geöffnet worden.
Schweigend standen sie in der Halle, die mit hohen, schwarzfleckigen Spiegeln und verstaubten Stühlen gesäumt war. Heruntergebrannte Kerzen flackerten in schiefen Haltern an den Wänden. Eine breite Treppe wand sich endlos aufwärts, immer weiter ins Dunkel hinauf, und ganz oben hing ein gewaltiger Kronleuchter, so groß wie ein Segelboot. Sophie konnte ihn nur undeutlich unter seiner Schutzhülle ausmachen, einer Wolke aus zerfetztem, zerschlissenem Musselinstoff.
Nach einem Märchenschloss sah das hier jedenfalls nicht aus. Vielleicht tauchte es deshalb in keinem Reiseführer auf. Wer würde auch die lange Reise auf sich nehmen, nur um hierherzukommen? Es war alles so schäbig, so vernachlässigt!
Sophie warf einen Blick auf ihre Freundinnen. Delphines Gesicht hatte sich verdüstert und sie blickte sich verächtlich um. Das hier hatte nichts mit den komfortablen Landhäusern zu tun, in denen sie sonst verkehrte. Aber Sophie war es egal, wie der Palast aussah. Dass er so verlottert war, machte ihn in ihren Augen nur noch kostbarer – wie wenn man etwas Altes, Vergessenes findet, das sonst niemand mehr haben will.
»Also ich weiß nicht – Dr. Starowa hat doch gesagt, dass wir in eine Datscha gehen«, murrte Marianne.
»Und ich dachte, die Volkonskis sind sagenhaft reich«, flüsterte Delphine.
Ivan schien ihre Enttäuschung zu spüren. Übertrieben fröhlich stampfte er den Schnee von seinen Stiefeln. »Nun kommt schon, Mädchen – macht ein bisschen Lärm, so wie ich!«, rief er. »Kein Russe mag Schnee an seinen Stiefeln!«
Gehorsam stampften die Mädchen den Schnee von ihren valjenki ab.
»Abgesehen von ein paar Dienstboten«, sagte Ivan mit ernster Stimme und schaute dabei Delphine an, »hat der Palast fast ein ganzes Jahrhundert lang leer gestanden.«
Im selben Moment wehte sie ein Luftzug an, wie ein Seufzen aus den tiefsten Tiefen des Palastes, die Kerzen flackerten auf und warfen bizarre Schatten, die sich wie wilde Tiere auf sie stürzten. Aus dem Augenwinkel erhaschte Sophie eine andere Bewegung oben an der Treppe, doch als sie hinaufspähte, war nichts zu sehen.
»Warum sind die Volkonskis fortgegangen?«, fragte sie.
»Die Revolution«, erwiderte Ivan einfach, als sei damit alles gesagt. »Eine einzige schreckliche Nacht im Jahr 1917 hat die Familie für immer zerstört.«
»Das war bestimmt die Nacht, in der der russische Zar ermordet wurde«, sagte Marianne zu Delphine, die Ivan verständnislos anstarrte. »Und damit war der Untergang des Zarenreichs
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