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Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)

Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)

Titel: Wo Schneeflocken glitzern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathryn Constable
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traurigsten von allen. In einem lagen vergilbte Papierrollen am Boden, die von einem Schreibpult heruntergefallen waren. In einem anderen standen ein Spieltisch, der noch mit einem Krug und Gläsern gedeckt war – der Weinsatz in den Gläsern sah aus wie getrocknetes Blut – und ein Schachtisch mit zerbrochenen Figuren. Sophie beugte sich hinunter, blies den Staub von der weißen Königin und stellte sie auf ihr Feld zurück. Die Räume wirkten, als seien die Bewohner gerade erst hinausgegangen, und wenn Sophie nur angestrengt lauschte, konnte sie vielleicht ihre Stimmen im Nebenraum hören.
    Draußen ächzte und stöhnte der Wind. Die schweren Mäntel raschelten beim Gehen und Ivans Lederstiefel knarzten.
    »Was war das denn?« Ganz in der Ferne – vielleicht auf der anderen Seite des Palastes – hatte Sophie ein Geräusch aufgefangen. Es waren nicht die Stimmen längst verstorbener Volkonskis, auch wenn sie ihr noch so gegenwärtig erschienen. Nein, das war ein Laut, den sie noch nie gehört hatte. Sie lauschte angestrengt, beschwor den Wind sich zu legen, damit sie besser hören konnte.
    »Wieso? Was meinst du?«, fragte Delphine und spähte mit gerunzelter Stirn in die Schatten hinter ihr.
    »Ich hab was gehört.« Sophie ging langsamer und drehte leicht den Kopf. »Da ist es wieder.«
    »Was?«
    »Ein Stöhnen … oder ein Schrei oder so.« Wie in aller Welt sollte sie beschreiben, was sie gehört hatte? Falls sie etwas gehört hatte. Vielleicht lag es nur an der melancholischen Schönheit der verwüsteten Räume, dass sie Geräusche hörte, die nicht da waren?
    »Also ich hab nichts gehört«, sagte Marianne. Aber Sophie sah, wie sie in sich zusammenschrumpfte, als fürchtete sie sich.
    »Ich glaube, das ist der Wind, was du hörst, kleine Sophie«, beschwichtigte Ivan sie. Aber seine Augen huschten beim Reden ängstlich hin und her.
    Wie das Heulen des Windes sich anhörte, wusste Sophie. Und dieses Geräusch war anders. Es sträubte ihr die Nackenhaare, ließ ihr Herz schneller schlagen. Wilder und verzweifelter als jeder Sturm klang es. Und es kam von etwas Lebendigem  – ein herzzerreißender, zutiefst einsamer, verlorener Schrei – und Sophie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gehört zu haben. Aber wo?
    Ivan ging schnell weiter, als wollte er sie von dem Geräusch wegführen. »Wir dürfen uns nicht verspäten«, rief er und drängte mit großen Schritten vorwärts. Die drei Mädchen liefen ihm eilig nach.
    Endlich erreichten sie das Ende des Ganges. Ivan riss die Rosenholztür auf, die vor ihnen lag, und helles Licht flutete heraus. Dahinter lag eine verwirrende Welt aus zahllosen Spiegeln, die das Kerzenlicht reflektierten.
    Ivan verneigte sich tief und verkündete: »Ihre durchlauchtigste Hoheit, Prinzessin Anna Fjodorovna Volkonskaja.«

Sie trug ein perlgraues Wollkleid mit aufgestickten silbernen Blättern an den Ärmeln und einem hohen Pelzkragen. Ihr hellblondes Haar war straff aus der glatten, schimmernden Stirn gekämmt und zu einem dicken Strang gedreht, so schwer wie ein Schiffstau. An den Füßen trug sie hochhackige Schuhe mit langen, schmalen Spitzen wie Schlangenzungen, und als sie über das ausgetretene Parkett schritt, blitzten leuchtend rot die Sohlen auf.
    »Ich kann da nicht reingehen.«
    »Jetzt mach schon, Sophie, bitte«, wisperte Marianne. »Ich mag es nicht, wenn du Angst hast. Weil ich dann selber Angst kriege.«
    Sophie hätte ihr gern erklärt, dass sie keine Angst hatte, sondern nur völlig überwältigt war. Sie war nicht wie Delphine, die beiläufig erzählte, dass sie eine Comtesse beim Lunch getroffen oder mit einem Kabinettsminister Tee getrunken hatte, wenn sie aus dem Wochenende zurückkam. Nein, sie selbst war noch nie in großer Gesellschaft gewesen, geschweige denn bei einer Prinzessin, und jetzt fühlte sie sich von ihrer Schüchternheit und ihrem mangelnden Selbstbewusstsein gehemmt, so wie Marianne ohne ihre Brille aufgeschmissen war.
    Aber dann griff Mariannes schweißfeuchte Hand nach ihrer und zog sie in die verfallene Pracht des leeren Ballsaals hinein.
    Rings um sie blitzten vergoldete Spiegel und über ihnen hingen riesige Lüster mit glitzernden Kristallketten, die zu atemberaubenden Schleifen geschlungen waren. Sophie spähte zu einem hinauf, als sie darunter durchgingen, und ihr wurde schwindlig vom Funkeln der Kristalle, die jeder für sich den ganzen Raum einzufangen schienen.
    Vor lauter Aufregung musste sie wohl eingeknickt sein, weil

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