Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
besiegelt und es kam zum Bürgerkrieg und zur Entstehung der Sowjetunion.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Delphine und schaute Marianne misstrauisch an. »Das hatten wir doch noch gar nicht in Geschichte.«
»Ich hab’s im Reiseführer gelesen«, erklärte Marianne. »Man muss sich doch informieren, wenn man in ein anderes Land reist.«
»Nun, das sind nur die Fakten«, warf Ivan ein. »Und die verraten nichts über die grausige Wirklichkeit, die dahintersteht.« Seufzend fuhr er fort: »Als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin, kurz nachdem die Prinzessin in den Palast gezogen ist, hat es mir fast das Herz gebrochen. Ein solches Juwel, eine solche Kostbarkeit, und so übel zugerichtet.« Er schüttelte traurig den Kopf und fuhr fort: »Jeder echte Russe verfällt in tiefste Schwermut, wenn er durch Räume geht, die einst von Musik und fröhlichem Festlärm erfüllt waren.« Er schwieg einen Augenblick, dann lächelte er. »Aber Prinzessin Anna Fjodorovna Volkonskaja wird den Palast wieder zum Leben erwecken und das tragische Schicksal der Volkonskis zum Guten wenden – oder selbst daran zu Grunde gehen. Das hat sie sich geschworen.«
Ivan lächelte verlegen, als die Mädchen einen Blick wechselten. »Die Prinzessin hat euch im alten Kinderzimmer der Volkonskis einquartiert. Dort werdet ihr euch am wohlsten fühlen, meint sie. Und vor allem funktioniert in diesem Teil des Palastes die Heizung noch.«
Die Mädchen folgten Ivan die Treppe hinauf. »Bitte achtet auf eure Schritte«, sagte er leise, als sie an einem abgebrochenen Geländerabschnitt vorbeikamen, »die Soldaten haben so viel zerstört in jener Nacht, in der sie Vladimir, den letzten Volkonski-Fürsten, gejagt haben.«
»Gejagt haben? Wie meinen Sie das?«, hauchte Sophie.
»Zwanzig berittene Revolutionäre sind in den Palast eingedrungen, um den Prinzen zu ermorden. Er wusste natürlich, dass sie hinter ihm her waren. Selbst in dieser abgelegenen Provinz war es schon zu Gewalttaten gekommen. Aber Prinz Vladimir hat seine Mörder nicht um Gnade angefleht. Er ist in der Uniform der Kaiserlichen Husaren die Treppe heruntergekommen, einen Krug Wodka in der Hand. Die Rebellen haben ihn als »Feind des Volkes« beschimpft und der Prinz hat dem Anführer auf die Stiefel gespuckt. Dann sagte er ihnen, dass er ihnen zur Verfügung stehe, aber erst wenn er seine ganze Familie um sich versammelt habe. Er rannte diese Treppe hinauf und die Rebellen jagten ihm zu Pferd hinterher. Könnt ihr euch das vorstellen, Mädchen? Zwanzig mordlustige Reiter, die hinter einem einzigen Mann die Treppe hinaufgaloppieren?«
Sophie drehte sich um und schaute die breite Marmortreppe hinunter. Ich hätte niemals schnell genug rennen können, um zwanzig Reitern zu entkommen, dachte sie. »Aber warum hat er das getan?« Plötzlich wollte sie unbedingt wissen, warum der Prinz so waghalsig gewesen war. Wie hatte er nur in seinen sicheren Tod rennen können? »Warum hat er sich nicht versteckt? Oder irgendwie zu entkommen versucht?«
»Eine gute Frage, kleine Sophie«, erwiderte Ivan. »Und es zeigt mir, dass du den Prinzen besser einzuschätzen weißt als seine Verfolger. Denn warum sollte er – der tapferste Mann in der Armee des Zaren – davonlaufen?
Inzwischen waren sie auf dem obersten Treppenabsatz angekommen. Ivan drehte sich zu ihnen um und seine Augen schimmerten im Kerzenlicht. Vor ihnen lag ein breiter Flur, den die Kerzenstummel in den spärlichen Leuchtern nur wenig erhellten. »Der Prinz ist durch diesen Gang zur Galerie gelaufen, wo die Porträts fast aller Volkonskis hängen, die jemals gelebt haben.« Ivan seufzte. »Dort hat er seine Mörder erwartet.«
Sophie starrte den Flur hinunter. Ganz am anderen Ende konnte sie eine Flügeltür ausmachen, die mit Leiern verziert war und mit denselben wilden Geschöpfen, die sie bereits auf dem Zugwagen abgebildet gesehen hatte. Es war eine seltsame Kombination – die zierlichen kleinen Harfen und die knurrenden Wölfe. Als ob die Wölfe die Harfenmusik mit ihrem Gesang begleiteten.
Sophie stellte sich die Szene in jener Mordnacht so lebhaft vor, dass sie das Schnauben der Pferde, das Klappern der Hufe auf den Steinstufen und die rauen Schreie der Männer hören konnte.
»Er muss schreckliche Angst gehabt haben«, wisperte sie. »Und was ist dann passiert?« Sie musste es einfach wissen.
»Er wurde sofort erschossen, ohne Umstände und ohne jede Rücksicht auf seinen Rang und seine Familie«,
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