Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
mir in die Schusslinie gelaufen bist, aber wahrscheinlich hätte das sowieso zu viel Aufsehen erregt. Auch wenn der Palast hier noch so abgelegen ist, die Leute reden und bringen irgendwelche Gerüchte in Umlauf. Und deine lächerlichen Freundinnen hätten natürlich auch geredet. Aber daran ist nur diese dumme Schulleiterin schuld, die unbedingt wollte, dass die beiden mitkommen. Außerdem, wer weiß? Vielleicht hätte sich irgendjemand an dich erinnert und behauptet, er sei mit dir verwandt, und dann wäre die Situation vollends aus dem Ruder gelaufen.«
»Prinzessin!«, flüsterte Sophie. »Lassen Sie meinen Arm los – Sie tun mir weh.«
Die Prinzessin ignorierte sie und schaute starr geradeaus. Sophie stolperte und wäre gestürzt, wenn die Prinzessin sie nicht mit eisernem Griff festgehalten hätte. Ein Luftzug drang aus dem verfallenen Gang herauf und die Dunkelheit hüllte sie ein wie ein stickiger Umhang.
»Bitte lassen Sie mich los.« Sophie war den Tränen nahe.
Vielleicht hatten die Wölfe sie gehört, denn sie stimmten jetzt ein Geheul an, das immer lauter wurde, je tiefer sie in den Gang hineinkamen. Die Prinzessin zerrte Sophie unbarmherzig weiter und lachte böse, als das Heulen anschwoll.
»Ich hätte sie gleich nach meiner Ankunft abschießen lassen sollen«, sagte sie. »Von dem dummen Geheul bekommt man nur Kopfschmerzen.«
Modergeruch hing in der Luft.
»Was habe ich nur gemacht?« Sophies Handgelenk brannte, so fest drückte die Prinzessin zu. Bei Sophies Worten zuckte sie zusammen, als wäre sie geschlagen worden. Sie zerrte Sophie noch enger zu sich her und starrte ihr ins Gesicht.
»Verstehst du denn nicht?«, wisperte sie und Sophie schaute angstvoll auf ihre blasse Nasenspitze. »Diese ganzen Geschichten über die Wolfsprinzessin … das bist du! Du bist die Wolfsprinzessin, du kleine Närrin!«
»Aber …«
»Was glaubst du, warum ich dich hergeholt habe? Warum sollte ich mich sonst für dich interessieren?«
Sophie wollte ihren Ellbogen wegreißen, konnte sich aber nicht rühren. War das vielleicht der Grund, warum Dimitri zu ihr gesagt hatte: Du weißt nicht, was du tust? Wollte er sie warnen? Aber wenn er sie für eine Volkonskaja hielt, warum hatte er dann nichts gesagt? Oder hatte er selber erst in diesem Moment begriffen, was er getan hatte?
»Wie kann ich … Wie kann ich die Wolfsprinzessin sein?«, stammelte Sophie und kämpfte mit den Tränen – vor dieser Frau wollte sie auf keinen Fall weinen.
»Das letzte Volkonski-Kind!« Anna Fjodorovna spuckte ihr das Wort praktisch vor die Füße. »Alle anderen Volkonski-Nachkommen sind tot! Ermordet, ausgelöscht, verschollen! Nur ein Kind – ein kleines Mädchen – ist entkommen!«
»Aber was habe ich mit diesem Mädchen zu tun? Ich bin doch Engländerin!«
Die Prinzessin schnaubte. »Ja, jetzt vielleicht … jetzt bist du Engländerin … Aber deine Vorfahren kommen von anderswo her – wie es bei vielen Leuten in deinem lächerlichen kleinen Land der Fall ist.«
»Das kann nicht sein!«
Die Prinzessin antwortete nicht sofort. Unschlüssig schaute sie Sophie an, als überlegte sie, was sie ihr sagen sollte. Schließlich biss sie sich auf die Lippe und stieß hervor: »Aber ja doch – es war das Einzige, was mich an dir fasziniert hat. Als du hierhergekommen bist, dachte ich, du wüsstest Bescheid über deine Herkunft. Und du hättest vielleicht sogar erraten, warum du hier bist.« Lachend fügte sie hinzu: »Aber der Witz war, du wusstest gar nichts. Du warst völlig ahnungslos.«
»Na und? Es gibt ja auch nichts zu wissen«, brachte Sophie mühsam hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihr Kopf dröhnte.
»Nein, natürlich nicht.« Die Prinzessin beugte sich zu ihr vor. »Aber warst du denn gar nicht neugierig – hast du nie nach deiner Familie gefragt? Und was für eine Familie das war! Traurig … so traurig, diese ganze Geschichte …«
Das Gesicht der Prinzessin verdüsterte sich in gespieltem Kummer. »Mir hat es fast das Herz gebrochen, als ich zum ersten Mal davon gehört habe. Wie Prinzessin Sofja Kyrilitsch Volkonskaja, unsere liebe, süße Wolfsprinzessin, vor fast hundert Jahren im tiefsten Winter ihr Zuhause verlassen musste. Hässliche, blutrünstige Zeiten waren das, besonders für die bedauernswerten Menschen, die einen Titel oder Ländereien oder Geld besaßen … oder einen Strang kostbarer Diamanten, die aus der hauseigenen Mine stammten.« Sie holte Luft und fuhr
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