Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
durch Mariannes heftiges Schluchzen und ihren eigenen keuchenden Atem zu ihr drang. Nur ganz allmählich nahm sie es wahr, weil ihr Herz so wild klopfte, dass ihr Kopf davon dröhnte. Aber da war es – ein lächerlich dünnes Summen, das aus ihrer Kehle kam. Ja, wirklich! Sophie hätte fast gelacht. War sie bescheuert oder was? Da schlich ein Rudel hungriger Wölfe auf sie zu, und sie summte ? Denn die Wölfe kamen jetzt immer näher in ihrem lautlosen, geduckten Gang. Sophie kauerte sich nieder und machte sich ganz klein, den Kopf in den Händen vergraben.
Ich sitze mutterseelenallein in einem Wolfsgarten, dachte sie. Warum singe ich?
Hauptsache, es ging schnell. Wenn es nur bald vorbei war! Ohne hinzusehen, wusste Sophie, dass die Wölfe jetzt alle an der Treppe unten versammelt waren, und dieses Warten wurde unerträglich. Von einem steilen Dach hätte sie hinunterspringen und von einem sinkenden Schiff ins Meer stürzen können. Alles lieber, als auf dieses grauenhafte Ende zu warten …
Sophie sang lauter. Das Lied ihres Vaters. Oder war es Dimitris Lied? Im Geist hörte sie, wie Dimitris Stimme dort oben im Kronleuchter mit dem halb vergessenen Wiegenlied ihres Vaters verschmolz. Der hechelnde Atem der Wölfe drang an ihr Ohr. Vorsichtig öffnete sie ein Auge.
Der Anführer des Rudels stand ganz vorne – er war größer und grobknochiger als der Rest. Die anderen umringten ihn an der Treppe unten, reglos wie Statuen, so wie Sophie es sich vorgestellt hatte. Der Schnee klebte in ihrem Fell. Und einer – vermutlich ein junger – ließ die Zunge aus dem Maul hängen. Intuitiv erfasste Sophie die Hierarchie der Meute – dass die jüngeren Wölfe nur darauf warteten, bis der Leitwolf eine Bewegung machte.
Bei dem Gedanken, was auf sie zukam, brach sie in Tränen aus, so dass ihr Lied auf einmal ganz sonderbar klang, von heftigen Schluchzern unterbrochen. Sie schniefte, sang noch lauter. Vielleicht würde ihr das die letzten Minuten ein wenig leichter machen?
Sie schloss die Augen wieder und sang aus vollem Hals.
Die Wölfe schlichen die Treppe herauf, das hörte sie genau, immer näher auf sie zu, aber als sie die Augen wieder öffnete, saßen sie auf ihren Hinterläufen.
Sophie verstummte.
Da legten die Wölfe ihre Köpfe zurück, und das ganze Rudel heulte wie ein Mann, so dass es ihr kalt über den Rücken lief. Stille. Unablässig behielt sie die Wölfe im Auge, wie gelähmt vor Angst und zugleich fasziniert von ihnen. Dann hörte sie, wie Marianne zu Delphine sagte: »Ich kann da nicht hinsehen, ich halt’s nicht mehr aus!«
Sophie legte ihren Kopf zurück und sang. Der alte Leitwolf vor ihr nickte mit dem Kopf und leckte sich die Lefzen. Lautlos schnürte er die Stufen herauf und starrte sie mit seinen rot glühenden Augen an. Direkt unter ihr blieb er stehen.
Sophie zog ihre Füße noch enger an sich. Der Wolf witterte in die Luft, über der Stelle, wo ihre Füße gestanden hatten. Sophie kauerte sich noch mehr zusammen und schlang schützend ihre Arme um ihre Schultern. Aber vielleicht war es besser, einfach ihr Bein auszustrecken, damit er sie schnappen konnte? Würde es dann schneller gehen? Und sie wollte doch, dass es schnell ging. Mit letzter Kraft schob sie ihren Fuß an den Rand der Stufe und schrie auf, als der Wolf seinen mächtigen Nacken vorstreckte und sein Maul direkt über ihren Schuh brachte.
Dann sah sie das getrocknete Blut an der Flanke des Wolfs, dort, wo die Kugel ihn gestreift hatte – wie eine rote Rosette sah es aus.
»Du bist das!«, stieß sie hervor. »Du lebst!«
Der Wolf winselte, als hätte er sie verstanden. Er stieß Sophies Fuß mit seiner Schnauze an, schmiegte sehnsüchtig seinen Kopf an ihr Bein und schloss die Augen. Ein Seufzer rieselte durch seinen Körper.
Das restliche Rudel trottete jetzt auch auf sie zu, lagerte sich um sie herum im Schnee. Sophie schnappte nach Luft, als einer der Wölfe aufsprang und sie in seinem Überschwang gegen die Tür schleuderte. Ein Wolfsjunges kletterte auf ihren Schoß und leckte ihr das Gesicht. Das Kleine war ganz warm, trotz seiner eisverkrusteten Zehenpolster. Sophie vergrub ihre Hände in seinem Fell.
Dann ein metallisches Knirschen, ein Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Mehrere Riegel wurden zurückgerissen und der alte Wolf hob seinen Kopf und knurrte. Eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Tier stieg in Sophie auf. Der Wolf würde sie beschützen bis zu seinem letzten Atemzug, das wusste sie in
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