Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès

Vom Netzwerk:

gefahren. Es ist Sommer, er hat das Fenster runtergelassen und trommelt mit den Fingern aufs Autodach. Der Fahrer reißt das Steuer rum, sie überschlagen sich. Nach dem Unfall hat er nichts, nur ein wenig Blut an den Ärmeln, auch seine Mitfahrer sind unverletzt. Erleichtert schüttelt er die Hand, die Geste eines unverhofft Davongekommenen – und seine Finger purzeln auf den Asphalt.

    KIRCHERS KABINETT als Verkörperung von Kircher selbst. Weniger ein Museum als ein Sammelsurium, dem Anatomischen Museum des Docteur Auzoux vergleichbar. Der Geist dieses Mannes war so kurios wie der eines Schmarotzers oder des Postboten Ferdinand Cheval mit seinem idealen Palast.

    BRIEF AN MALBOIS : Anmerkungen zu La Mothe Le Vayer hinzufügen.

    DER HISTORIKER , so sagen die Historiker, ist immerhin in der Lage, den Stil einer Epoche zu beschreiben, dasjenige, was nur zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort hat zustande kommen können. Doch sogar das noch ist illusorisch: Der Historiker kann nichts begreifen als den Unterscheid zu seiner eigenen Zeit. Er hält der Vergangenheit einen bronzenen Spiegel vor und betrachtet darin die Verzerrungen.

    »DIE PAARUNG MIT TIEREN« , schreibt Albert Camus, »unterdrückt das Bewusstsein des Anderen. Sie bedeutet ›Freiheit‹. Darum hat sie so viele Geister fasziniert, bis hin zu Balzac.«

    ENDE DES 16 . JAHRHUNDERTS : »Infolge des Strafgerichtsprozesses, der Anklagen und Tatsachen, der Befragungen, der Antworten und Geständnisse des Angeklagten, Gegenüberstellungen und Schlüssen des genannten Anklägers, dem all dies vorgelegt ward: angesichts der Antworten und Geständnisse des Angeklagten vor dem Rate, und allem, was uns zu Kund und Wissen ward. Durch unseren Spruch und Urteil befanden und befinden wir den benamten Legaigneux als schuldig und überführt des fleischlichen Umgangs mit einer dem Soundso gehörenden Eselin. Zur öffentlichen Buße dieses Verbrechens wird er verurteilt, vom Scharfrichter an dem und dem Orte am Galgen aufgehängt zu werden, bis dass der Tod eintritt. Vor dieser Hinrichtung soll die genannte Eselin im Beisein des Angeklagten erschlagen und getötet werden.«
    Das Tier wird bestraft, weil es für die Tat ebenso verantwortlich ist wie der Mensch: Der der Sodomie Schuldige hat sich auf das Niveau des rohen Tieres hinabbegeben, die Eselin hingegen hat sich unverzeihlicherweise die Zugehörigkeit zur Gattung der denkenden Wesen angemaßt. Sie haben beide gleichermaßen »wider die Natur gehandelt«. Indem sie gegen die Gesetze ihrer Art verstoßen, gefährden sie zugleich die Ordnung der Welt.

    ENDE DES 20 . JAHRHUNDERTS : »Der versuchten Sodomie mit einem Delphin namens Freddie angeklagt, bringt Alan Cooper, 38 , zur Verteidigung vor, er habe das Tier lediglich masturbiert, um seine Freundschaft zu erwerben. Seine Anwälte gründen ihre Verteidigung darauf, dass Delphine notorische Lüstlinge seien und zu den wenigen Tiergattungen gehörten, die zum Vergnügen miteinander Sex haben. Alan Cooper drohen zehn Jahre Haft, wenn ihm die
Absicht der vaginalen oder rektalen Penetration
nachgewiesen wird, und lebenslänglich, wenn
die Sodomie zweifelsfrei erwiesen ist
.« (Newcastle upon Tyne, England)
    Die Strafe ist dieses Mal ebenso absurd, allerdings folgt sie einer Einbahnstraße: Tiere seien per se unschuldig, denn man spricht ihnen die Fähigkeit ab, etwas anderes zu sein als das, was sie sind. Indem er sämtliche Freiheit aller Lebewesen für sich beansprucht, übernimmt der Mensch auch sämtliche Verantwortung. Er allein ist verantwortlich, er allein ist schuldig. Er ist allein.

    WARUM VERWENDET SCHOTT in den erotischen Passagen die lateinische Sprache, die doch von der Mehrheit der Lesekundigen seiner Zeit verstanden wird? Diese falsche Scham ist schamlos.

    ÜBLICHERWEISE wird das Labyrinth als ein Problem des Entkommens gesehen: Einmal darinnen, muss man zusehen, dass man wieder zum Ausgang findet. Das von Kircher gezeichnete Labyrinth scheint die Frage umzukehren, da es nämlich nirgendwohin führt. Sein Zentrum ist unzugänglich. Der Ariadnefaden erweist sich als nutzlos: Das wahre Labyrinth muss vom Zentrum her angelegt sein, als vom Außen restlos abgetrennter Raum. Allegorie zum Gehirn mit seinen Windungen, seiner undurchdringlichen Einsamkeit. Man muss ein Dädalus sein, um fliegend aus dem Labyrinth zu entkommen, doch muss man auch ein Dädalus sein, um zuvor den Minotaurus zu töten.

    DIE STELE VON