Wo Tiger zu Hause sind
getäuscht, & unter seiner Führung durchwanderte diese Gesellschaft lange die Sammlungen seines Museums. Der kindliche König vergnügte sich höchst ritterlich mit den Skeletten, Mumien & ausgestopften Tieren, langte mit nervösem Ungeschick nach allem, was sich in seiner Reichweite befand, ohne dass irgendjemand aus seinem Gefolge ihm darob Vorhaltungen machen mochte; mehrfach waren Sammlungsstücke von unschätzbarem Wert durchaus in Gefahr … Mein Meister brodelte innerlich & wusste Don Luis Camacho Dank, der das Kind jedes Mal, bevor es etwas zu zerstören drohte, sanft weiterführte.
Als wir darauf in der Großen Galerie zu einem improvisierten Imbiss versammelt waren, erkundigte sich der Generalinquisitor bei Kircher nach dem jüngsten Ungemach unserer Missionen in China. Kircher gab ihm den letzten Brief Verbiests zu lesen, & das Gespräch wandte sich bald Fragen der Götzenverehrung zu, dann den von den Chinesen abgelehnten Punkten unserer Lehre.
»Gut, gut«, meinte Pater Neidhardt schließlich, »doch möchte ich nun wagen, Euch um einen Gefallen zu bitten: Mein Neffe hat kaum Gelegenheit, sein Wissen mit Köpfen wie Euch zu messen, & ich wäre hocherfreut, ihn einer solchen Probe zu unterziehen. Das sollte jedenfalls eine ihm höchst nützliche Lektion in Demut sein, & ich bezweifle nicht, dass er die besten Lehren daraus zöge …«
»Nichts lieber als das, Pater … Ich habe ihn vorhin beobachten können & eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten erlangt. Erlaubt mir«, er wandte sich an Don Luis Camacho, »mit Euch zu verfahren wie Sokrates mit Phaidon & Euch zu einer Wahrheit zu bringen, mit welcher Ihr schon schwanger geht, ohne es zu wissen. Denkt nicht, dies wäre eine Laune meinerseits, denn es ist ein Exemplum dessen, was mein Herz erfreut, seit Gott mich damit beschenkt hat.«
Der Jüngling, der aufmerksam den Besprechungen der Älteren gelauscht hatte, willigte gern ein & war in dem sich nun anschließenden Dialog bestrebt, den Erwartungen meines Meisters ganz & gar zu entsprechen.
Favela de Pirambú
Nur das Gesetz kann helfen!
Als Moéma im stickigen Halbdunkel der Hütte aufwachte, gelang es ihr einige Zeit nicht, sich aus der Benommenheit zu befreien, zumal sie nicht wusste, wo sie sich befand. Verschwommen blickte sie zwischen ihren Wimpern hindurch und entzifferte große rote Buchstaben an den Kartons, die als Dach dienten – OBEN UNTEN . Ein Körper, es war ihr eigener, trug ein Fußballtrikot, T-Shirt und Shorts in den Farben Brasiliens. Über sie neigte sich eine Art Engel und tupfte ihre Stirn ab, ein junger Mann mit dunklem Gesicht, großen, traurigen Augen und spärlichem Bartflaum, einer jener neapolitanischen
ragazzi
, wie man sie in Wachsfarben auf den Mumienporträts von Al-Fayum sehen kann. Sie schloss die Augen wieder. Liegen bleiben, nichts sagen, sich totstellen, um nicht mehr geschlagen zu werden … Dieser Engel redete ununterbrochen, leise tanzten seine Sätze zusammen mit dem Staub in der Luft. Das Wort »Prinzessin« kehrte beständig wieder, voll tröstlicher Wärme. Moéma erinnerte sich, wie sie dieser Kantilene gefolgt war, magnetisch angezogen wie ein führerlos treibendes Schiff vom Versprechen auf ruhigeres Gewässer. Was war davor gewesen? Das LSD in Andreas’ Wohnung, dann das Fest, auf dem sie sich so elend fühlte, die Wanderung in die Favela … Ein Gewebe von Erinnerungen an ein überwältigendes, nie zuvor erlebtes Unglück. Von all diesen Momentaufnahmen, die untereinander seltsam getrennt waren, trat eine ihr mit unerträglicher Intensität ins Gedächtnis: diejenige, als der Silberreiher jenen Schutzwall aus Licht durchbrochen hatte, der sie bis dahin von der Welt trennte. Sie sah das Gesicht jedes einzelnen der Mistkerle, die sie vergewaltigt hatten, hörte jede verächtliche Bemerkung, erlitt aufs Neue jede einzelne Tortur, die sie ihr angetan hatten, ihr Flehen verlachend. Der Effekt des LSD s hatte noch nicht ganz nachgelassen; fast unmerklich verstärkte diese Nachwirkung das brüske Abtauchen ihres Geistes in den Horror der letzten Nacht. Wieder kamen ihr die Tränen. Sie legte sich die Hände um den Kopf und versuchte, sich ganz klein zu machen und irgendwie die Bruchstücke dessen zusammenzufügen, was das Wolfsrudel zerrissen und verstreut hatte.
Dann schlief sie wieder ein.
Später am Tag war sie allein in der Hütte und nutzte das, um in eine Ecke zu urinieren. Dann lag sie auf der Seite und musterte lange das
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