Wo Träume im Wind verwehen
tanzte auf einem umgestürzten Baumstamm und erinnerte sich an das erste und einzige Mal, als sie mit ihrem Vater im Ballett gewesen war.
Schwanensee.
Der sterbende Schwan. Es wäre schön gewesen, wenn er sie häufiger ins Ballett statt auf die Jagd mitgenommen hätte. Und doch hasste Skye
Schwanensee.
Das Stück war schön, aber tragisch und brachte zu viele Saiten bei ihr zum Klingen.
»Der Tanz findet da drüben statt.«
Die tiefe Stimme kam aus dem Schatten. Skye war so erschrocken, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren und vom Baumstamm gefallen wäre. Sie verspürte einen Anflug von Panik, der ihr die Luft abschnürte.
»Wer ist da?«
Ein Mann trat aus dem Gebüsch. Er musterte sie mit seinen lebhaften blauen Augen. Hoch gewachsen, mit einem zerrissenen Hemd, das gebräunte muskulöse Schultern entblößte, wirkte er bedrohlich. Er sah aus wie ein Pirat, aber es hatte nicht den Anschein, als wäre er kostümiert.
»Vorsicht! Fallen Sie nicht hinunter.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«
»Keine Angst, das hatte ich auch vor.«
Skye schwankte auf dem Baumstamm. Die Entfernung zum Wasser betrug nicht einmal zwei Meter. Falls er näher kam, konnte sie immer noch springen. Das schwarze Wasser würde über ihrem Kopf zusammenschlagen. Sie konnte die Luft anhalten und ans Ufer schwimmen. Der sterbende törichte Schwan. Trotzdem, die Rolle war ihr wie auf den Leib geschnitten, auch wenn ihr der Wodka bereits zu Kopf gestiegen war.
»Setzen Sie sich lieber hin.«
»Kommen Sie ja nicht näher!« Wollte er ihr helfen? Oder sie von hinten packen, ihr das Kleid herunterreißen und ihr den Mund zuhalten, um ihre Schreie zu ersticken? Der Gedanke, der ihr durch den Kopf raste, bewirkte, dass sie sich umdrehte und loslief. Ihr Fuß verhedderte sich in einem abgeknickten Ast, und sie strauchelte.
Der Mann fing sie auf. Zwei Schritte, und er war neben ihr. Sie mit den Armen umfassend, wollte er ihr Halt geben. Skye wehrte sich wie rasend. Sie kreischte, kratzte, versuchte ihm die Finger in die Augen zu bohren. Trotz des Kampfes auf dem Baumstamm gelang es dem Mann, beide im Gleichgewicht zu halten.
»Loslassen!«, schrie sie.
»Skye …«
»Ich schwöre Ihnen, ich bringe Sie um! Glauben Sie mir …« Hatte er gerade ihren Namen genannt?
»Skye, setzen Sie sich hin. Ist ja gut, Sie haben nichts zu befürchten. Aber setzen Sie sich endlich hin, um Himmels willen!«
»Wer zum Teufel sind Sie?«
Der Mann packte ihre Oberarme. Skyes Füße berührten den Baumstamm kaum. Sein Griff war eisern. Sie hatte sein Gesicht zerkratzt, er blutete. Zitternd blickte sie ihn an. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie wusste nicht, wo, aber sie hatte ihn schon einmal gesehen.
»Bitte setzen Sie sich hin, ja?«, sagte er. Er berührte seine Wange und sah das Blut an seinen Fingern.
Skyes Schädel hämmerte, ihre Kehle brannte. Ihr war speiübel, und sie würgte und übergab sich ins Wasser. Sie traute ihm nicht über den Weg, doch ihr blieb keine Wahl. Sie war betrunken, schwach auf den Beinen, krank. Sie brauchte einen Schluck Wodka, aber sie hatte den Flachmann bei dem Gerangel fallen lassen. Der Mann half ihr, sich auf den Baumstamm zu setzen.
Skye schluchzte.
Der Mann reichte ihr sein Taschentuch. »Hier.«
Skye schüttelte den Kopf. Sie schaute sich suchend nach der Flasche um. Vielleicht war sie im Fluss gelandet.
»Sie ist weg. Ich habe gesehen, wie sie hineingefallen ist«, sagte er.
Skye warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Woher wusste er, wonach sie suchte? Als sie sich nach vorne beugte, sah sie Blut an seiner Wange hinablaufen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte.
»Lassen Sie uns von dem Baumstamm runtergehen.« Er streckte die Hand aus und wartete auf sie.
»Warum kommen Sie mir so bekannt vor?«, erwiderte Skye unschlüssig.
»Wir haben uns neulich im Gasthof gesehen. Sie standen mit Ihrem Mann an der Bar.«
Skye starrte ihn an. Das war es nicht. Sie kannte das Gesicht, kannte es seit langem. Er war älter geworden, aber diese blauen Augen … die kräftigen Kiefermuskeln, die gerade Nase. Sie versuchte sich zu besinnen. Es gelang ihr, den Wodkanebel zu durchdringen, ihre Angst vor seiner unverhofften Gegenwart zu überwinden.
»Nein, das meine ich nicht.« Er war ihr immer noch unheimlich, aber irgendetwas in seinen blauen Augen beruhigte sie, versicherte ihr, dass er nichts Böses im Schilde führte. Sie reichte ihm die Hand. Er half ihr vom Baumstamm herunter. Der Boden unter
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