Wo Träume im Wind verwehen
Tür!«
»Sie hatte Recht«, sagte Joe.
»Womit?«
»Wir hatten dort nichts zu suchen.«
Sam hob eine Augenbraue, was zur Folge hatte, dass sein Brillengestell zum ersten Mal nicht verbogen, sondern gerade aussah.
»Entschuldige, aber Caroline hat uns eingeladen.«
Joe runzelte die Stirn. Er sah zu, wie die Möwen Stücke vom Köderfisch verspeisten, und hielt angestrengt nach Haien Ausschau. Es gab nicht viele gefährliche Spezies in diesen Gewässern, aber hin und wieder traf man auf einen Mako.
»Stimmt doch!«, sagte Sam mit Nachdruck.
»Ich weiß, Schwachkopf. Aber es geht nicht um die Einladung. Der gesunde Menschenverstand hätte mir sagen sollen, dass wir bei einem Fest der Renwicks nichts zu suchen haben.«
»Mrs. Renwick ist doch bloß stinkig, weil ihr Mann was für Mom übrig hatte. Na und? Das ist Schnee von gestern! Mom hat meinen Vater geheiratet, Mr. Renwick wurde der Hemingway unter den Malern, und das Leben ging weiter. Wieso macht sie einen derartigen Aufstand? Wo liegt das Problem?«
»Sam …«, sagte Joe warnend. Er dachte an die blutigen Einzelheiten, die mit dem Tod seines Vaters verbunden waren, und starrte zornig auf die Wellen.
»Es ist nicht Carolines Schuld, dass ihre Mutter so eifersüchtig und neurotisch ist.«
»Ich weiß.« Niemanden traf die Schuld an der Situation, weder ihn noch Caroline. Sie hatten lediglich die falschen Eltern.
»Bedeutet das, du wirst das Angebot aus Yale nicht annehmen?«
Joe warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Das hatte ich nie vor.«
»Scheiße. Ich hatte mir Hoffnungen gemacht.«
»Ja? Worauf denn?«
»Dass du Mitglied der Fakultät wirst und ein gutes Wort für mich einlegst.«
»Du brauchst meine Fürsprache nicht, Sam.« Joe lachte wider Willen. »Du kannst ganz gut für dich selbst sprechen.«
»Trotzdem wäre es schön gewesen, wenn wir beide in der Nachbarschaft gewohnt und an derselben Uni gelehrt hätten. Ich fände es nicht schlecht, dich ein bisschen besser kennen zu lernen.« Sam spielte mit einer Heftklammer, die er aus seiner Tasche gefischt hatte.
»Du kennst mich gut genug.«
»Das meinst du! Aber als du von zu Hause weggegangen bist, war ich erst drei. Und dann die Trinkerei …«
Die Blaufische durchbrachen immer wieder die Wasseroberfläche, ihre Rücken blitzten silbern in der Sonne. Die Vögel fraßen und tauchten. Joe berührte die Kameenbrosche in seiner Tasche. Sie fühlte sich heiß in seiner Hand an. Er würde weiterhin Gold suchen. Yale. Gott bewahre!
»Willst du mitkommen? Ich gehe tauchen.« Sam schüttelte den Kopf. Er musterte einen Niednagel, der ihn allem Anschein nach störte. »Nein, ohne mich. Ich habe zu tun. Mein Forschungsprojekt … es wird höchste Zeit, dass ich nach Nova Scotia zurückkehre.«
»Ja, ich weiß noch gut, wie das war.« Joe rang sich ein Lächeln ab. »Immer unter Zeitdruck arbeiten, damit sie einem nicht den Geldhahn zudrehen.«
»Bloß nicht, das wäre das Allerletzte.« Sam lächelte schief. Eine schwache Leistung, verzog er doch kaum den Mund. Seine Augen waren bitter vor Enttäuschung. Sein Blick kehrte zu dem Niednagel zurück. Joe versuchte sich wieder auf das Treiben der Vögel zu konzentrieren, sich selbst hassend.
Black Hall.
Er erinnerte sich an seinen letzten Tauchgang mit Sam, als er die Kameenbrosche gefunden hatte. Damals hatte sein Bruder bereits versucht ihm Yale schmackhaft zu machen. Er war lachend um Joe herumgeschwommen, Blasen stiegen aus seinem Mund auf, trieben an die Oberfläche des Wassers, und er hatte mit den Lippen lautlos die Worte Black Hall geformt.
Was zum Teufel wollte er? Dass sie sich gemeinsam eine Wohnung in der Stadt nahmen, um das Familienleben nachzuholen, das sie nie gehabt hatten? Gemeinsam unterrichteten? Sich auf dem langen Hin- und Rückweg über ihre Vorlesungen unterhielten? Ein Gespann wurden, zwei Brüder, die an einem Elite-College lehrten und sich in ihrer Freizeit als Schatzsucher betätigten? Die sich in Black Hall niederließen, damit sich Joe in Caroline verlieben konnte?
Joe atmete aus, stand auf und krümmte seinen Rücken. So ein ausgemachter Blödsinn! Sam war ein Träumer, war es von Kindesbeinen an gewesen, zumindest hatte Joe immer diesen Eindruck gehabt. Aber möglich, dass er ihn wirklich nicht gut kannte. Trotzdem liebte er seinen Bruder, und das war die Wahrheit, so sehr, wie er einen Menschen zu lieben vermochte – sofern er überhaupt wusste, was das Wort bedeutete.
Joe warf einen Blick auf das
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