Wo Träume im Wind verwehen
rau gewesen für Experimente gleich welcher Art.
Trotzdem hatten sie in Anbetracht der kurzen Zeit gute Fortschritte bei ihrer Bergungsaktion erzielt. Das Wrack war vermessen, kartiert und weitgehend von Schlick und Sand befreit. Sie hatten Unterwasseraufnahmen gemacht, Proben des verwendeten Holzes analysieren lassen und die Schiffskonstruktion unter die Lupe genommen. Sie gelangten einhellig zu dem Schluss, dass es vor 1800 in England gebaut worden war, wahrscheinlich noch vor 1750. Der Brief, den Caroline 1971 an Joe geschrieben hatte, war ein weiteres Indiz, dass es sich bei dem Fund um die
Cambria
handelte. Carolines Brief und das Gold.
Sie hatten vereinzelte Goldmünzen ausgegraben, doch die Arbeit war gefährlich. Der Meeresgrund erwies sich als trügerisch, glich einem undurchdringlichen Wald aus geborstenen Spieren – die zersplitterten Masten und Rahen des Schoners. Im zerklüfteten Holz konnte sich der Luftschlauch eines Tauchers verfangen oder der Kälteschutzanzug bis auf die Haut aufgeschlitzt werden. Durch die Trümmer des Wracks zu schwimmen erforderte ein Höchstmaß an Achtsamkeit und Konzentration, als ob man sich einen Weg durch den Dschungel bahnen würde. Aber dabei fanden sie nach und nach den Schatz.
Solche Bergungsaktionen kosteten ein Vermögen. Joe zahlte sie aus eigener Tasche und hasste es, wenn ein Tag ohne nennenswerte Erfolge verstrich. Es lag in seinem Interesse, das Projekt so schnell wie möglich zu beenden. Einige seiner Männer waren an Land gegangen, um die Catspaw Tavern unsicher zu machen, und in ihm begann sich der Gedanke zu regen, ob er ihnen folgen sollte.
Eines der Beiboote kehrte gerade zurück. Joe hörte das Dröhnen des Motors, als es sich näherte. Er sah zu, wie es um die
Meteor
herumfuhr und achtern festmachte. Dan stieg über das Fallreep an Bord.
»Hallo, Skipper!«, rief er, als er das Ruderhaus betrat.
»Nanu, hast du was vergessen?«
»Nein, mir ist bloß nicht danach, mit den anderen auf die Pauke zu hauen. Ich brauche meine Ruhe, schätze ich.«
»Kann ich dir nachfühlen«, sagte Joe. Seine Männer waren gereizt an den Tagen, an denen sie untätig herumsitzen mussten. Sie hockten zu eng aufeinander, hörten sich notgedrungen die Klagen der anderen an, begannen ihrem Leben an Land nachzutrauern, ihren Frauen, Kindern, Freundinnen oder wem auch immer, und das Heimweh offenbarte sich. Obwohl sich Joe nie ein richtiges Zuhause an Land geschaffen hatte, vermisste er es ebenfalls schmerzlich.
»Da, für dich, Boss.« Dan schob ihm mehrere Briefe und einen großen braunen Umschlag über den Kartentisch. »Der Dockmeister bat mich, dir die Post mitzubringen.«
Ein Brief von seinem Bruder Sam war dabei. Joe hatte sich einsam und ruhelos auf dem Meer gefühlt, und der Anblick des Briefs stimmte ihn froh. Der große Umschlag hatte einen amtlichen Anstrich. Vermutlich die Ergebnisse der Laboranalysen von den Segel- und Holzfragmenten, die er nach Woods Hole geschickt hatte, oder eine historische Dokumentation von seinem Freund in der kartografischen Abteilung von Yale. Er wollte ihn gerade weglegen, doch da fiel sein Blick auf die Handschrift. Sie war ihm so vertraut, dass er sie jederzeit und überall erkannt hätte. Er wunderte sich, warum ihm Caroline plötzlich wieder schrieb. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er legte den Rest der Post beiseite und riss den Umschlag auf.
Er enthielt einen dicken Packen fotokopierter Dokumente. Joe blätterte flüchtig die Seiten durch. Sie trugen das Datum 1796 und waren in einer zierlichen, gestochenen Schönschrift mit einem Federhalter geschrieben. Caroline hatte auf blassblauem Briefpapier ein paar Zeilen beigefügt. Die Kleckse ließen darauf schließen, dass sie mit Tinte geschrieben waren, und Joe fiel wieder ein, dass sie auch damals schon hin und wieder einen Füller benutzt hatte.
Lieber Joe,
meine Nichte hat mir dieses Tagebuch gezeigt, und ich dachte, es könnte Dich interessieren. Es stammt von Clarissa Randall. Ihre Mutter war die Frau, die mit dem Kapitän der
Cambria
durchgebrannt ist. Ich habe es noch nicht zu Ende gelesen, aber man bekommt einen ersten Eindruck vom Leben in einem Leuchtturm während des 18. Jahrhunderts, aus der Sicht eines Kindes, das von seiner Mutter verlassen wurde, weil sie einen anderen liebte. Klingt irgendwie vertraut …
Ich frage mich natürlich, ob Du deshalb nach der
Cambria
tauchst. Nicht, dass es mich etwas anginge, das ist mir klar. Ich habe keine
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