Wo Träume im Wind verwehen
Ahnung, wie Du auf mein Päckchen reagierst, aber ich hoffe, Du nimmst es an. Betrachte es nicht als Geschenk, sondern als Informationsmaterial. Ich fühle mich zum Teil dafür verantwortlich, dass Du hier bist. Als ich meine Mutter auf Firefly Hill besuchte, habe ich am Fenster gestanden und Deine Boote gesehen. Ich gestehe, ich war ziemlich stolz.
Die Blumen, die Du Skye geschickt hast, waren wunderschön.
Caroline
Joe starrte das Dokument an. Es dauerte, bis er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Dann las er die ersten Einträge. Sie sahen echt aus. Allem Anschein nach handelte es sich um die originalgetreue Kopie eines handschriftlich verfassten Tagebuchs von einem Familienmitglied der Leuchtturmwärtersfrau. Es enthielt Landschaftsbeschreibungen und ein paar Einzelheiten aus dem Familienleben. Erst jetzt ging ihm die Bedeutung von Carolines Brief auf, und er spürte, wie die Hitze in seinen Nacken kroch. Da Dan direkt neben ihm stand, bemühte er sich, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen.
»Die Frau hat Nerven«, sagte er.
»Was?«, fragte Dan.
»Nichts.« Entweder ist sie mutig oder verrückt, dachte er. Was zum Teufel fiel ihr eigentlich ein, Vergleiche zwischen der
Cambria
und seiner Familie zu ziehen? Tod und Treulosigkeit. Genau die Dinge, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Als er hierher gekommen war, hatte er geahnt, dass er wieder mit den vielschichtigen Gefühlen konfrontiert sein würde, die in Zusammenhang mit seinem Vater standen. Aber er war ein erwachsener Mann, seit langem nüchtern und realistisch. Er hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen, und Caroline Renwicks Meinung konnte ihm gestohlen bleiben.
Um das Maß voll zu machen, öffnete er Sams Brief. Er wusste genau, was darin stand, las ihn aber trotzdem. Vermutlich hatte er leise gestöhnt, denn Dan blickte zu ihm herüber.
»Will er immer noch kommen?«
»Ja, er ist nicht davon abzubringen.«
»Vielleicht gefallen ihm Schiffswracks. Wie fühlt man sich denn so als großes Vorbild?«
»Herrlich beschissen!«, antwortete Joe mit einem schiefen Grinsen.
»Der Junge hat Mumm, das muss man ihm lassen«, sagte Dan kichernd. »Gibt nicht auf, obwohl er sich eine Abfuhr nach der anderen holt.«
»Ja, ein zäher Bursche.«
Die Nacht war windstill. Die
Meteor
schaukelte auf der glatten See. Joe stand am Kartentisch und starrte die Briefe an. Die Lampe mit dem grünen Schirm verbreitete ein sanftes Licht, wohl tuend für die Augen. Die Wellen schwappten gegen den Rumpf des Schiffs. Vielleicht sollte er Caroline an Bord einladen, damit sie sich selbst überzeugen konnte, dass es bei der Bergungsaktion nicht um chaotische Familienverhältnisse und Gefühle ging, sondern um die Suche nach Gold und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Er sehnte das Tageslicht herbei, damit er endlich weiterarbeiten und abtauchen konnte. Er hatte keine Lust, über die Menschen nachzusinnen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt hatten, Menschen, die Empfindungen in ihm auszulösen vermochten, wie er sie gerade jetzt verspürte – Trauer und Wut und das Gefühl, als hätte er etwas verloren, was er nicht richtig ausdrücken konnte.
Caroline legte auf dem Gipfel des Serendipity Hill eine Verschnaufpause ein und blickte aufs Meer hinaus. Sie war außer Atem nach dem Aufstieg über den steilen, schmalen Fußsteig. Dann glitt ihr Blick über die kleinen Ortschaften Hawthorne und Black Hall, folgte dem Ibis River bis zu der Stelle, wo der Fluss in den Connecticut und dieser in den Long Island Sound mündete. Überall funkelten Lichter. Caroline zählte zwei Leuchttürme an der Küste von Connecticut und vier auf der anderen Seite des Sunds, auf Long Island. Sie sah ein hell erleuchtetes Schiff und fragte sich, ob es wohl die
Meteor
war.
Der Ruf eines Nachtvogels drang zum Gipfel empor. Er klang einsam und herzergreifend und erinnerte Caroline an die Nächte, die sie auf einem anderen Berg verbracht hatte. Sie hielt den Atem an, saß reglos da und versuchte den Vogel in den Bäumen zu orten. Sein Gesang war klar und kam aus einem dunklen Kieferngehölz. Die Luft roch würzig. Eine Eule flog mit lautem Flügelschlag vorüber.
So sehr Caroline die Jagdausflüge auch gehasst hatte, es gab Augenblicke, die unvergesslich waren. Das Gefühl, alleine in der unberührten Natur zu sein, schmale Pfade hinaufzuklettern, an deren Ende sich atemberaubende Ausblicke boten, bläuliche Schluchten unter einem schweren sommerlichen Dunst. Unter freiem
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