Wo Träume im Wind verwehen
reglos verweilen. Dann schüttelte er erneut den Kopf und ging weiter.
Caroline. Es war nicht richtig gewesen, sie zu küssen, eine unüberlegte Handlung. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Seine Arme hatten sie ohne sein Zutun umschlungen, sein Mund hatte ihre Lippen gefunden, seine Stimme ihren Namen geflüstert. Es war, als wäre Joe von einer fremden Macht gesteuert worden.
Joe Connor wäre nie von alleine auf die Idee gekommen, Caroline Renwick zu küssen. Hass war ein starkes Wort, aber man konnte ohne Übertreibung behaupten, dass Joe die Familie Renwick hasste. Ihretwegen hatte er getrunken, hatte sich den Scotch in rauen Mengen einverleibt, um den brennenden Hass mit dem Alkohol hinunterzuspülen.
Aber was passiert war, ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Joe war Wissenschaftler, und er verstand die unwiderlegbare Wahrheit bestimmter Fakten. Er hatte gestern Abend in diesem Raum gestanden, in enger Umarmung mit einer schönen Frau, die sich an ihn geschmiegt und ihn leidenschaftlich geküsst hatte, und er hatte sie mehr als jede andere in seinem Leben begehrt. Ihr Stöhnen hatte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt und die Haare auf seinen Armen zu Berge stehen lassen. Er hatte sie mit einer Zärtlichkeit geküsst, die ihm unbekannt war; er hätte sie am liebsten nie wieder gehen lassen.
Der Augenblick gegen Ende des Abends, als sie ihm erzählt hatte, wie viel ihr sein Vater und Joe selbst bedeutet hatten – dass es ihr nicht gelungen war, Joe zu vergessen –, hatte ihm den Rest gegeben. Die Anteilnahme in ihrer Stimme, was seine Person betraf, war mehr, als er verkraften konnte. Er hatte die Möglichkeit gehabt, zu gehen oder sie zu küssen, und er hatte sich für beides entschieden. Verdammt, warum saß ihm die Wut immer noch im Nacken? Er wünschte, endlich darüber hinwegzukommen; er wünschte mehr als alles in der Welt, er möge endlich verschwinden, dieser lebenslange Groll, der ihm so vertraut war.
»Fertig!« Sams Gesicht war vor Aufregung gerötet. Er stand auf der Niedergangstreppe und zog den Reißverschluss seines Taucheranzugs hoch. Als Joe seinen Bruder betrachtete, dachte er an die jüngste Renwick-Schwester. Er hatte Carolines Sorge gespürt und war dankbar, dass er sich nicht über Sam den Kopf zerbrechen musste.
»Hier, die darfst du abwaschen«, sagte Joe und drückte Sam die Kaffeebecher in die Hand. »Was bist du eigentlich für ein Seemann? Wartest darauf, dass andere hinter dir herräumen!«
»Tut mir Leid, Käpten.« Sam nahm die Becher, damit Joe sich umziehen konnte. Aber er wirkte nicht im Geringsten zerknirscht, sondern liebevoll und nachsichtig, als wüsste er, dass Joes barsche Art nur vorgetäuscht war. Als würde er ahnen, dass sich hinter der rauen Schale ein weicher Kern verbarg, ein grundanständiger Mensch, ein einsamer Wolf, der verzeihen würde, wenn er dazu im Stande wäre.
Skye und Simon gingen im Park der Klinik spazieren. Es wimmelte von Schwestern in weißer Tracht, die Patienten im Rollstuhl vor sich herschoben. Hohe Ahornbäume spendeten Schatten, und die gepflasterten Wege waren von niedrigen Spindelstrauchhecken gesäumt. Zitronengelbe Ringelblumen und leuchtende Zinnien füllten Reihe um Reihe die streng geometrisch angelegten Blumenbeete. Skye hatte nur wenige Gärten gesehen, die sie nicht malen wollte, aber dieser gehörte dazu.
Als sie eine unbesetzte Steinbank fanden, nahm Skye erleichtert Platz. Obwohl sie weniger als zehn Minuten auf den Beinen war, fühlte sie sich erschöpft. Nach der Anstrengung war ihr so schwindlig, dass sie sich vornüberbeugen musste. Wenn es irgendwo ein Fleckchen Gras gegeben hätte, hätte sie sich hingelegt und wie ein Kätzchen zusammengerollt.
Simon holte eine Zigarette aus seiner Tasche. Er zündete sie an und blies den Rauch über Skyes Kopf. An der Art, wie er ihn ausstieß, konnte sie hören, dass er verärgert war. Sie blickte hoch.
»Was ist los?«
Er zuckte mit den Schultern.
Sie versuchte die Unruhe zu verdrängen, die Besitz von ihr ergriff. Schließlich war sie die Kranke, die Person, die liebevolle Zuwendung und Schonung brauchte. Aber sie war auf Simons Stimmungsschwankungen, auf seine Bedürfnisse und Gemütszustände geeicht. Sie hatte sich angewöhnt, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Als Kind hatte sie miterlebt, wie ihr Vater in seinem Atelier tobte, wenn er wütend war, oder tagelang stumm vor sich hin brütete. Ihre Mutter war gesprungen, wenn er pfiff,
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