Wo Träume im Wind verwehen
er nicht oft an den Zusammenkünften der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen. Er versuchte Orte zu meiden, die ihm gefährlich werden konnten, um keinen Rückfall zu riskieren.
Joe stand im Kräutergarten. Der durchdringende Geruch nach Thymian und Verbenen rief Erinnerungen an Griechenland wach. Es war ein lauer Sommerabend, kein Lüftchen regte sich. Der Gasthof war hell erleuchtet. Musik und Stimmen wehten aus der Bar herüber, und er hatte das vertraute Gefühl, meilenweit von den Geschehnissen entfernt zu sein. Als er durch die alten Glasfenster spähte, sah er Caroline die Bar betreten. Sie blickte sich suchend um, und Joe fragte sich, nach wem sie Ausschau halten mochte. Vielleicht nach ihm, dachte er. In genau diesem Moment wurde der Duft der Kräuter intensiver, und ihm war kurz schwindlig.
Ein klappriger alter Porsche fuhr vor. Zwei Insassen stiegen aus. Sie hielten einander umschlungen, lehnten sich taumelnd gegen ihren Wagen und küssten sich lange und leidenschaftlich. Dann lösten sie sich voneinander und eilten lachend in den Gashof. Auf unsicheren Beinen wankten sie in die Bar und bestellten etwas zu trinken. Das Mädchen war schön. Zierlich und schlank, hatte sie Ähnlichkeit mit Caroline, nur war sie blond. Sie hob ihr Glas, um mit dem Mann anzustoßen, aber Caroline trat dazwischen. Neugierig geworden, ging Joe hinein.
»Tu’s nicht, Skye«, sagte Caroline gerade, ihre Hand auf dem Handgelenk des Mädchens. »Erinnerst du dich, wie Dad genau an derselben Stelle stand und wir das Gefühl hatten, zuzusehen, wie er verschwand?«
»Caroline, sie ist erwachsen«, sagte der Mann. Er hatte einen ausdruckslosen Blick, war knochig und ganz in Schwarz gekleidet. Lange schwarze Haarsträhnen fielen ihm über das krankhaft bleiche Gesicht. Einige der anwesenden Künstler kannten ihn offenbar. Sie hatten sich zu dem Pärchen gesellt, um die beiden zu begrüßen, sich aber beim ersten Anzeichen einer drohenden Auseinandersetzung zurückgezogen.
»Halt dich da raus, Simon«, fauchte Caroline.
Das Glas war bis zum Rand mit Champagner gefüllt. Joe sah, wie sich das Licht darin fing. Blasen perlten in einem unablässigen Strom an die Oberfläche. Das Mädchen schwankte. Ihr Blick wechselte zwischen Caroline und dem knochigen Künstler hin und her.
»Nur ein Glas!«, sagte sie.
»Denk an Dad!« Carolines Stimme klang gepresst.
»Was hat das mit ihm zu tun?« Skye warf ihrer Schwester einen zornigen Blick zu. »Lass mich in Ruhe.«
»Wir können auch gehen, wenn es dir lieber ist«, sagte Simon. »Wir wollten uns hier mit Freunden treffen, die, nebenbei bemerkt, in deinem Gasthof abgestiegen sind, Trent und Anya, du kennst sie bestimmt. Sie leben am St. Mark’s Place in New York und machen hier jeden Sommer zwei Wochen Urlaub …«
»Simon, halt den Mund«, unterbrach ihn Caroline mit einem drohenden Unterton.
»Ich hasse es, wenn ihr streitet«, sagte Skye. »Bitte hört auf damit.« Sie trank einen Schluck, dann noch einen. Mit einem Aufstöhnen, das wie ein Schluchzen klang, verließ Caroline die Bar.
Joe machte Anstalten, ihr nachzugehen. Aber Sam war schneller. Joe sah, wie sein kleiner Bruder hinter Caroline Renwick durch die Doppelglastür trat. Sie lief durch den Kräutergarten, den Weg entlang, der zum Fluss hinunterführte, gefolgt von Sam.
»Caroline!«
Caroline hörte die Stimme des Mannes, hatte aber keine Lust, stehen zu bleiben, hatte keine Lust, mit jemandem zu reden. Noch vor zehn Minuten hatte sie nach Joe Connor Ausschau gehalten, doch im Moment war er der letzte Mensch, den sie sehen wollte. Sie brauchte keine Hilfe, von niemandem. Mit schwimmenden Augen legte sie noch einen Schritt zu.
»Caroline!«
»Es geht mir gut!«, erwiderte sie, um Fassung ringend. Sie drehte sich um, zwang sich, ihn anzusehen und Ruhe zu bewahren. Da bemerkte sie überrascht, dass nicht Joe, sondern Sam ihr gefolgt war.
»Alles in Ordnung?«
»Es geht mir gut«, wiederholte sie. Von Sam in einer schwachen Minute ertappt zu werden, gab ihr den Rest, und sie spürte, wie ein Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg.
»Es geht Ihnen nicht gut. Sie sind mit den Nerven am Ende.«
»Nein, ich …«
»Sie können sie nicht vom Trinken abhalten.«
»Ich hätte Anweisung geben müssen, dass man sie nicht bedient, hätte meinen Barmixern sagen müssen, dass sie ihr nichts ausschenken dürfen, kein einziges Glas …«
»Sie hätte sich anderswo etwas zu trinken besorgt. Wer ist sie, Ihre
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