Wo Träume im Wind verwehen
Immer noch strahlend, musterte er sie. Caroline merkte, wie sie verlegen wurde.
»Was ist?«
»Sie sehen nicht aus, als wären Sie des Teufels.« Sam blickte auf ihren Scheitel hinab und duckte sich, um ihr in die Augen schauen zu können.
»Wer sagt das?«
»Das habe ich mein ganzes Leben zu hören gekriegt. Diesen Moment sollte man rot im Kalender anstreichen, ich meine, dass ich hier stehe und mich mit einer Renwick unterhalte. Wenn ich neulich nicht gesehen hätte, dass Joe mit Ihnen spricht, würde ich mir jetzt wie ein Verräter vorkommen. Als würde ich gemeinsame Sache mit dem Erzfeind machen, verstehen Sie?«
»Dann denken Sie mal darüber nach, wie ich mich fühle, wenn ich Ihnen das Abendessen serviere.«
»Ich weiß schon, was Sie meinen. Joe und Sie haben sich also versöhnt?«
»Sagt er das?«
»Joe? Joe ist verschlossen. Haben Sie das noch nicht bemerkt?« Sam nickte, als er Carolines ausdruckslose Miene gewahrte. »Es sei denn, es geht um Geophysik, sein Lieblingsthema, aber er redet auch gerne über den Salzgehalt im Meer und die Fortschritte in der Meerestechnologie. Er ist ziemlich beschlagen auf dem Gebiet der Satellitennavigation, und man bringt ihn nicht zum Schweigen, wenn es um die neuen Radiokarbon-Methoden geht, mit deren Hilfe man das Alter der Funde in Schiffswracks bestimmen kann. Aber sonst …«
»Ist er ein wortkarger Mann.«
»Sie haben’s erfasst.«
Einige der Wissenschaftler und Piraten unterhielten sich an der Bar mit einer Gruppe attraktiver Aquarellmalerinnen aus Atlanta, die wie jedes Jahr eine Woche im Renwick Inn verbrachten. Caroline sah Sam Trevor an und merkte, dass sie nicht umhinkonnte zu lächeln. Diese Wirkung hatte er vermutlich nicht nur auf sie, sondern auf alle, denen er begegnete. Zwischen seinen vorderen Schneidezähnen befand sich eine Lücke, die ihm das Aussehen eines kleinen Jungen verlieh. Die blauen Augen waren in den Winkeln von Lachfältchen umgeben. Sein Brillengestell war verbogen, als ob er sich ständig darauf setzte.
»Warum ist er ausgerechnet hierher gekommen? Warum hat er beschlossen, nach dem Schatz der
Cambria
zu tauchen, obgleich es im Meer von Schiffswracks nur so wimmelt!«
»Das soll wohl ein Witz sein!« Sam stieß sie mit dem Ellbogen an.
»Nein.«
Sam wurde ernst. »Dieses Wrack ist etwas Besonderes, sowohl historisch als auch aus der Sicht des Schatzsuchers. Joe hat es auf das Gold der
Cambria
abgesehen. Er würde nie tauchen, wenn dabei kein Vermögen zu verdienen wäre, ungeachtet aller anderen Einflussfaktoren.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Die
Cambria
ist an einer Untiefe untergegangen, und deshalb sollte man meinen, das Wasser wäre an dieser Stelle flach. Aber sie ist in einen Graben abgesackt, einen der tiefsten in der Litoralzone …«
»Litoralzone?«
»In der Gezeitenzone, unweit der Küste«, erklärte Sam entschuldigend. Er war kein Aufschneider, wie Caroline feststellen konnte. Er war jung und linkisch, ein ungeschliffener Diamant. Er und Joe hätten denselben Beruf ausüben können, aber ihr Stil war so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während sie den bebrillten jungen Wissenschaftler musterte, dachte sie unwillkürlich an Joe, an seine gebräunte Haut und die von der Sonne gebleichten Haare, seine Piratenaugen und muskulösen Arme, und sie lächelte bei dem Gedanken, wie verschieden zwei Menschen bei aller Ähnlichkeit sein konnten. Genau wie sie und ihre Schwestern.
»Der Graben ist tief, aber Joe hat die entsprechende Ausrüstung. Die Gezeiten und Strömungen schwanken stark an der Stelle. Das Wasser ist kalt, und die meisten Crewmitglieder stammen aus dem Süden, sind an warme Gewässer gewöhnt. Die Lage des Wracks ist nicht gerade stabil – der Bug sitzt auf einem Felsen auf, und das Heck ist eingekeilt; es bedarf ständiger Analysen, um zu ergründen, wie sich die gesamte Konstruktion unter Belastung verhält …«
»Das klingt für mich, als wäre das Projekt von vornherein zum Scheitern verurteilt.« Caroline lachte nervös.
»Das dachten andere Bergungsteams auch. Deshalb ist es ein Anreiz für Joe. Er hat das beste Schiff, das es gibt, und eine entsprechende Mannschaft. An der Fundstelle sind zufälligerweise auch noch geologische Formationen, die ihn als Geologe interessieren. An allererster Stelle ist mein Bruder Ozeanograph, müssen Sie wissen. Er nimmt Risiken auf sich, die niemand eingehen würde, und es hat sich immer für ihn ausgezahlt.«
»Waren das die anderen
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