Wo Träume im Wind verwehen
begab sich Caroline zu ihrer Familie. Augusta sah keck mit ihrem Harlekinkostüm und ihren schwarzen Perlen aus. Alle standen auf, und sie küsste ihre Mutter, ihre Schwestern und deren Männer zur Begrüßung. Sie machten sich gegenseitig Komplimente über ihre Kostüme, und alle waren voll des Lobes für Caroline, die sich mit ihren Arrangements für den Ball wieder einmal selbst übertroffen hatte.
»Dein Vater wäre stolz auf dich«, sagte Augusta und drückte ihre Hand. Ihre Augen schimmerten feucht hinter der Harlekinmaske. Augusta wurde mit jedem Jahr rührseliger. »Erstklassige Arbeit, Liebes.«
»Danke, Mom«, erwiderte Caroline glücklich. Die Zustimmung ihrer Eltern war immer wichtig für sie gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
»Dieses Kleid!« Augusta musterte Caroline. »Es sieht genauso aus wie das, das du getragen hast … Erinnerst du dich, wie du Modell gesessen hast? Auf der Veranda von Firefly Hill?«
»Ja, ich habe es nicht vergessen.« Wie konnte sie auch? Es war gegen Ende des Jahres gewesen, in der letzten Woche bevor es zu schneien begann. Andrew Lockwood war seit einem Monat tot, und die Familie hatte den Schock noch nicht überwunden. Es war das letzte Gemälde ihres Vaters, das diesen Namen verdiente. Als er die Arbeit an
Mädchen im weißen Kleid
beendet hatte, rührte er seine Farben nie wieder an.
»Es hat ihm den Rest gegeben«, sagte Augusta.
»Was?«
»Dieses Bild. Es kostete ihn den letzten Funken Kraft. Danach fühlte er sich innerlich ausgebrannt. Er war nie wieder der Alte. Aber er hat etwas Wichtiges darin eingefangen …«
Caroline warf ihrer Mutter einen prüfenden Blick zu. Ihre Stimme klang bitter, als hätte Carolines Kostüm sie an zu viele Verluste, Fehlschläge und Ungerechtigkeiten erinnert, unter denen sie und Hugh gelitten hatten.
»Was hat er eingefangen?«
»Den innersten Kern deines Wesens. Die Distanz, die du manchmal an den Tag legst …«
»Meinst du Gefühlskälte?«, unterbrach Caroline sie in einem Anflug von Angst. Sie erinnerte sich an Skyes Worte und wartete darauf, dass ihr jemand widersprach.
»Nein. Du warst jung und emotional, aber du hast deine Gefühle unter Verschluss gehalten. Das hat dir eine geheimnisvolle, sehr reizvolle Aura verliehen. Ich weiß noch, wie ich dein Gesicht betrachtete, so wie es dein Vater gemalt hatte, und dachte, alle Welt würde glauben, er sei in sie verliebt gewesen. In das Mädchen auf dem Bild, meine ich.«
»Mom!«
Augusta drehte sich um, bestrebt, die Enttäuschung in ihren Augen zu verbergen. Wenn Caroline es nicht besser gewusst hätte, hätte sie den herben Ton ihrer Mutter für Eifersucht gehalten. Aber das konnte nicht sein.
»Mädchen im weißen Kleid.
Du siehst wunderbar aus«, sagte Skye ruhig. Sie hatte ein Glas in der Hand; der Inhalt sah nach Mineralwasser aus.
»Du auch.«
Sie gingen befangen miteinander um, umkreisten sich wie zwei Hunde, die sich vorsichtig beschnuppern. Clea beugte sich vor. »Hört doch!«, sagte sie. Die Kapelle spielte »Goodnight, My Someone«. Skye hatte das Lied schon in der achten Klasse gesungen, bei einem Frühlingskonzert, und Caroline und Clea hatten die High School geschwänzt, um dabei zu sein und sie zu hören. Mit dem Stück verbanden die Schwestern gemeinsame Erinnerungen, und Caroline und Skye lächelten sich zaghaft zu.
»O Gott, nein!«, rief Augusta in diesem Moment.
Die Besatzung der
Meteor
war im Gasthof eingetroffen. Eine Horde Seeräuber mit zerrissenen T-Shirts, Augenklappen und salzverkrusteten Hosen bahnte sich ihren Weg durch die Menge in Richtung Bar. Die übrigen Ballbesucher, die in Grüppchen zusammengestanden hatten, wichen zurück und bildeten eine Gasse, als wären die Männer leibhaftige Piraten. Die Crewmitglieder umringten die Bar, klammerten ich an ihr Bier und beäugten das Fest aus sicherer Entfernung.
»Was machen diese Männer hier?«, fragte Augusta misstrauisch.
»Das sind Freunde von Caroline«, klärte Clea sie auf.
Ein zaundürrer Pirat setzte sein Bier mit Schwung auf dem Tresen ab und näherte sich ihnen. Er bewegte sich so zielstrebig auf Caroline zu, als schwänge er an einem zerfetzten Bramsegel quer über das Deck. Mit seinem roten Kopftuch, dem kurzen blonden Schopf und dem weißen Hemd, dessen Ärmel eigentümlich aufgebläht wirkten, stand Sam vor Caroline, die Arme in die Hüften gestemmt.
»Ahoi!« Eine Augenklappe bedeckte das linke Glas seiner Nickelbrille.
»Hallo, Sam«,
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