Wo unsere Träume wohnen
keine schlechte Hausfrau, aber das Möbelstück trug die Spuren von insgesamt acht Kindern. Nicht, dass Violets eigene besonders ordentlich waren, doch für die Söhne ihrer Freundin war die Welt eine Leinwand, die bemalt werden musste.
„Rudy hat mir meinen alten Job angeboten“, berichtete sie und versuchte, ihre zerzausten Locken mit den Fingern in Form zu bringen. „Sobald der Gasthof wieder eröffnet werden kann. Offenbar will er ihn komplett renovieren. Dabei kann ich auch schon helfen, wenn ich will.“ Betsy hörte nur mit einem Ohr zu. „Außerdem kann ich in die Wohnung über der Garage einziehen.“
Erst jetzt starrte ihre Freundin sie an. „Nimmst du an?“
„Ich habe ihm gesagt, ich denke darüber nach. In ein paar Tagen hast du dein Haus wieder für dich.“
„Habe ich mich je über euch beklagt?“, entgegnete Betsy mit gespielter Entrüstung. „Und wenn es nicht klappt, kannst du jederzeit wiederkommen und bleiben, so lange du willst.“
Was heißen sollte, dass Betsy die hundertfünfzig Dollar vermissen würde, die Violet ihr als „Miete“ zahlte.
„Wirklich, ich weiß nicht, wie ich es die letzten sechs Monate ohne dich geschafft hätte.“ Violet meinte es wirklich ernst und drückte Betsy dankbar die Hand.
Betsy schaltete den Fernseher aus und lächelte verschmitzt. „Ich habe durchs Fenster einen Blick auf diesen Rudy geworfen. Sieht er aus der Nähe genauso gut aus?“
Violet hatte mit der Frage gerechnet. Joey war eher der Teddybärtyp – lange Arme, rundlich, ein wenig zottig. Sie zuckte mit den Schultern, obwohl die Erinnerung an Rudys athletische Figur ein allzu vertrautes Kribbeln an allzu lang Vernachlässigtes auslöste. „Tut er wohl, nehme ich an. Obwohl er kein hübscher Kerl ist. Alles ist, wo es sein sollte, aber nichts Ungewöhnliches.“ Außer den Augen, dachte sie. Die konnten so manche Frau dazu bringen, alles zu tun, was er wollte. „Ein kräftiger Bursche. War mal Polizist. In Springfield.“
„Massachusetts?“
„Ja.“
„Ein Flachländer, was?“ Betsy strich ihrem schlafenden Sohn das Haar aus der Stirn. „Was hat ihn dazu gebracht, in diese Einöde zu ziehen?“
„Keine Ahnung. Aber ich wette Dollars gegen Donuts, dass er nicht bleibt.“
„Warum nicht?“
„Weil sie nie bleiben“, antwortete Violet nur.
„Du hast was getan?“, rief Stacey schrill und keinen halben Meter von Rudys Ohr entfernt, als er sie zwei Tage später zu ihrer neuen Schule fuhr. Natürlich war sie stinksauer gewesen, dass sie schon heute hinmusste, bis er sie darauf hingewiesen hatte, dass sie dadurch um das Entfernen der alten Tapeten herumkam.
Trotz der bitteren Kälte war es ein herrlicher Tag. Mit einem wolkenlosen, azurblauen Himmel, von dem die Sonne durch die kahlen Bäume schien und den Schnee glitzern ließ.
Im Gasthaus gab es wieder Strom, am Nachmittag wurde Heizöl geliefert, das Telefon sollte morgen angeschlossen werden, und seit gestern füllte sich der neue Müllcontainer mit Linoleum, trostlosem Teppichboden und allem, was bei der Geschmacksprüfung mindestens zwei Gegenstimmen erhielt.
Violet hatte sich noch nicht gemeldet, aber sie hatte bis morgen Zeit, also gab er die Hoffnung nicht auf.
Okay, vielleicht war Hoffnung nicht der richtige Ausdruck. Zuversicht passte vielleicht besser.
Und wenn schon, er war schließlich kein Wörterbuch. Er wusste nur, dass ihre großen grau-grünen Augen, die blasse Haut, ihr Duft und ihre ganz offensichtlich angeschlagenen Gefühle ihm einfach nicht aus dem Kopf gingen. Wenn sie sein Angebot annahm, wurde die Lage vermutlich wesentlich komplizierter, als er es im Moment gebrauchen konnte.
Denn nachdem er an dem Abend mit ihr zusammen im Wagen gesessen hatte, war Rudy nicht mehr sicher, wie lange er noch auf weibliche … Gesellschaft verzichten konnte. Die Art von Gesellschaft, gegen die manche Leute – er warf seiner schmollenden Tochter einen Blick zu – wahrscheinlich etwas einzuwenden hatten. Aber mit dem Problem wollte er sich befassen, wenn es anstand.
Er hatte Stacey erzählt, dass er Violet einen Job angeboten hatte. Und die Wohnung. Wenn sie ablehnte, gab es doch keinen Grund zur Aufregung, oder?
„Beruhige dich, Stacey“, sagte er sanft. „Das hat mit deinem Leben gar nichts zu tun.“
„Nein?“, entgegnete sie empört. Erst jetzt fiel Rudy ein, dass die Richter-Skala, nach der junge Mädchen die Auswirkungen auf ihr Leben bemaßen, ungefähr hundert Mal empfindlicher war als bei
Weitere Kostenlose Bücher