Wo unsere Träume wohnen
In einem der hinteren Fenster tauchte Julians strahlendes Gesicht auf. Sie winkte ihm zu. „Hat Ihre Tochter sich schon eingewöhnt?“
„Sie ist zwölf. Sich einzugewöhnen, ist nicht gerade ihre Stärke.“
Violet lächelte. Der Sonnenschein spielte mit ihren Locken, und Rudy dachte daran, wie gern auch er damit spielen würde. In dem Moment, in dem er sich sagte, dass er jetzt eine rebellische Tochter und einen maroden Gasthof hatte, schob sich eine Wolke vor die Sonne.
„Die Schule ist in Ordnung“, sagte Violet. „Stacey wird Freunde finden.“ Ihr Mantel öffnete sich leicht, als sie tief durchatmete, und regte Rudys Fantasie an. Er konnte sich gut vorstellen, wie weich und warm Violets Körper unter den dicken Daunen war …
„Ich wollte Sie nachher anrufen, aber wenn Sie schon hier sind … Meine Antwort lautet Ja. Zu dem Job. Na ja, eigentlich zu allem. Zum Kochen, Renovieren … was auch immer, ich bin Ihr Mädchen.“
So solltest du es vielleicht nicht formulieren, dachte Rudy, den Blick auf eine Locke gerichtet, die aufreizend ihren Mund umspielte. „Sind Sie sicher?“
Sie schaute wieder zu Julian hinüber. „Ja, das bin ich. Wir tun alles für unsere Kinder, nicht wahr? Wir stellen ihre Bedürfnisse vor unsere eigenen, meine ich.“
Als sie sich umdrehte, schaute er tief in ihre Augen, die so wachsam und ehrlich zugleich blickten. Wie lange war es her, dass er sich seine eigenen Bedürfnisse auch nur eingestanden hatte? Und musste er ausgerechnet jetzt daran denken? Jetzt, da seine Tochter ihn für einen egoistischen Mistkerl hielt, der ihr junges Leben ruiniert hatte? Noch ist Zeit. Du kannst Violet wegschicken, ihr sagen, dass du einen Fehler gemacht hast …
„Rudy? Geht es Ihnen gut?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ja, alles in Ordnung“, log er.
„Okay. Wann soll ich anfangen?“
„Sofort“, erwiderte er und überraschte sie beide.
„Oh. Ja, warum nicht?“ Violets Lächeln fiel ein wenig zittrig aus. „Schließlich habe ich nichts anderes zu tun, oder? Dann treffen wir uns am Gasthof.“
Rudy sah ihr nach, als sie davonging wie ein langer Wintermantel mit Füßen. Du meine Güte, was mache ich bloß?
4. KAPITEL
Mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen betrat Violet den Gasthof. Vor ihr rannte Julian hinein, während Rudy ihr folgte. So dicht, dass sie seine Wärme spüren und sein Aftershave riechen konnte, und ihre Nervosität hatte auch damit zu tun, dass er eine Hand locker um ihren Ellbogen gelegt hatte. Die zufällige Begegnung auf dem Parkplatz der Schule war zwanzig Minuten her, aber noch immer spürte sie seinen forschenden Blick.
Denn seine Augen hatten viel mehr verraten, als ihm vermutlich bewusst war.
Oder wusste er es?
Auf jeden Fall war ihr trotz der Kälte so warm geworden, dass sie sich fast Luft zugefächert hätte.
„Okay“, sagte Rudy, als sie mitten im Vorraum stehen blieben. „Vergessen Sie nicht, hier wird gerade renoviert.“
Violet öffnete die Augen und schrie auf.
Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der Raum war leer, die Fenster so nackt wie der Holzfußboden. Die Tapete – oder was davon übrig war – sah aus, als hätte eine Riesenkatze ihre Krallen hineingeschlagen. Um an die Enten zu kommen.
Sie hatte die Enten geliebt. Na ja, geliebt vielleicht nicht, denn sie waren furchtbar hässlich gewesen. Aber sie hatten immer etwa Beruhigendes gehabt, etwas Beständiges in einer unberechenbaren Welt.
„Sie haben die Enten umgebracht!“, rief sie und griff unwillkürlich nach Julians Hand.
„Stimmt!“ Rudy schien gar nicht zu merken, wie erschüttert sie war. Er ging in die Hocke und strich über den Fußboden, an dem noch Reste des Belags klebten. „Das ist Eiche. Genau wie die Täfelung! Und die Lichtschalter sind aus Messing! Und sehen Sie sich an, wie hell es ohne die grässlichen Vorhänge ist! Und es ist warm, dabei brennt kein Feuer. Passive Solarheizung … Und dann das hier!“
Er nahm ihre Hand und zog sie in die Küche. „Die Schränke sind aus Kirsche! Haben Sie eine Ahnung, was die neu kosten? Ich muss neue Fliesen legen, aber können Sie sich vorstellen, wie es hier aussieht, wenn die Armaturen ausgewechselt und die Schränke aufgearbeitet sind?“
Endlich erholte sie sich so weit vom Schock, dass sie Rudy zuhören konnte. Und zusehen. Er strahlte übers ganze Gesicht. Wie ein Kind, dachte sie erleichtert. Er liebte das alte Haus so sehr wie sie. Violet setzte sich auf einen der wackligen
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