Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
Vom Netzwerk:
sagen, aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie jetzt erstmal nicht weitergeht. Ich muss an die Tochter von Mick Jagger denken, die ich vor ein paar Stunden, in einer anderen Zeit, auf der Titelseite der
New York Post
gesehen habe. Elizabeth. Sicher macht sich auch Mick Jagger Sorgen. Ich sollte meine Eltern anrufen. Aber zuallererst muss ich natürlich Anja anrufen. Ich probiere es, die andern sehen mich an. Ich bin ein bisschen erleichtert, dass ich nicht durchkomme, weil ich nicht genau weiß, ob ich ein Gespräch mit Anja jetzt überstehe, wo ich vorhin schon beinahe zusammengebrochen bin, als mich Kristin umarmte. Ich sitze auf dem Sofa und sehe im Fernsehen zum ersten Mal, wie das zweite Flugzeug in den Turm fliegt.
    »Das bohrt sich rein wie ein Messer«, sagt Thomas.
    Das ist ein gutes Bild, denke ich, während sie die Szene wiederholen, vielleicht schreibt Thomas in Gedanken schon an einer Geschichte. Ich kann noch nicht. Es würde mich zu sehr anstrengen. Die Zeit dehnt sich und schrumpft, sie tröpfelt und rauscht, und ich sehe nur an dem hellen Mittagslicht, dass es noch nicht spät ist. Kristin hat jetzt eine Jacke an und eine Tasche über der Schulter und kündigt an, dass sie zum Blutspenden geht. Thomas springt auf, fuchtelt mit den Armen. Das Chaos da draußen sei zu groß, das Risiko, sich an einer dreckigen Nadel mit irgendetwas anzustecken. Sie müssten erstmal klären, wie sie sich als Familie verhalten. Ob sie hierbleiben oder die Stadt verlassen und wenn sie gehen, wohin. Im Fernseher zeigen sie schon wieder, wie sich das Flugzeug in den Turm bohrt. Ich kann gar nicht wegschauen. Ich muss das sehen. Wie ein Messer, Thomas hat recht. Kristin zieht die Jacke wieder aus und schreibt weiter E-Mails nach Deutschland. Im Fernsehen sagen sie, dass die Wahlen verschoben werden. Die Frau, die als Hausgast hier ist, glaubt nun auch nicht mehr, dass die
Fashion
Week
fortgesetzt wird. Wieder das Flugzeug, wieder der Knall, dann irgendwelche bärtigen Männer hinter einem schief aussehenden Podium, darunter steht ein Ort in Afghanistan. Die Taliban sind verantwortlich, sagen sie, ich höre den Namen Osama bin Laden, und ich glaube nicht, dass ich den schon mal bewusst wahrgenommen habe. Osama bin Laden soll verantwortlich sein. Der Name sagt mir wirklich nichts. Ich kenne die Taliban nur wegen der alten Kunstschätze, der riesigen Gottesfiguren in Bamiyan, die sie zerstört haben. Ich bringe das alles nicht zusammen, ich reise wie ein Wahnsinniger um die Welt und begreife nichts. Ich bin ein schlechter Weltbürger. Das Flugzeug jagt ins World Trade Center, die Bilder mit den bärtigen Männern kippeln im
Split Screen
, als erreiche sie die Detonation, als gebe es einen Zusammenhang, eine Druckwelle, die über den Atlantischen Ozean und das europäische Festland hinwegrollt bis nach Afghanistan. Unter den Bildern mit den ärgerlichen Bartträgern wird jetzt die Stimme von Henry Kissinger eingeblendet, der offenbar am Telefon spricht. Er redet davon, dass man diese Provokation beantworten muss. Es sei ein Angriff auf Amerika, der vergolten werden müsse. Umgehend, sagt Kissinger. Seine Stimme klingt, als spreche er aus dem Grab zu uns.
    »Und das alles mit Bush, diesem Idioten«, sagt Thomas. »Wenn wir den anderen hätten, den
Nerd
, würde ich mir nicht solche Sorgen machen. Aber mit dem
Bully
im White House, der dreht doch sofort durch.«
     
     
     
    I ch schließe alle Fenster im Wohnzimmer, weil Liz es so will, nicht, weil ich Angst vor Schadstoffen habe. Die Qualität der New Yorker Luft ist mir völlig egal. Ich denke nicht an Spätfolgen in zehn Jahren, ich bin froh, dass wir leben, hier und jetzt, dass Alex lebt, dass in den letzten drei Stunden keine Flugzeuge mehr abgestürzt und keine Häuser umgefallen sind.
    Mascha freut sich, dass sie mit Elise spielen kann. Die beiden gehen hoch ins Kinderzimmer. Liz und ich gehen hinterher, setzen uns auf den Teppich in Maschas Zimmer, lehnen uns gegen die Wand, wie wir es so oft gemacht haben, bevor Liz aus dem Haus ihrer Mutter auszog und sich eine eigene Wohnung ein paar Straßen weiter mietete.
    Liz' Mutter ist heute früh die drei Straßen zu Liz hinübergegangen, sie ist mit ihr und ihrem Mann aufs Dach gestiegen. Sie haben die Videokamera mitgenommen und die brennenden Türme gefilmt. Es war bereits klar, dass es ein Terroranschlag war, kein Unfall, und dort oben auf dem Dach hat Liz erklärt, dass Amerika das verdient hat.
    »Was hast du

Weitere Kostenlose Bücher