Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
wenn ihr Sohn Jack etwas aus meinem Kleidersack trug, schwärmte sie.
Die Mädchen spielen mit Maschas Puppen, draußen rennt Ferdinand durch den Garten und kämpft gegen einen unsichtbaren Feind. Ich erzähle Liz von Alex' Aufbruch nach Manhattan. Ich beschreibe, wie ich erst mitgehen wollte, wie ich nicht wusste, wo er war, bis ich Sabines Nachricht bekam. Ich berichte von meiner Erleichterung und Ferdinands Schuldgefühlen. Es tut gut, darüber zu reden. Liz unterbricht mich nicht, nur manchmal sagt sie: »Oh, my god. That's scary.« Und als ich fertig bin, nimmt sie meine Hand und wir sitzen einfach nur da und gucken unseren Töchtern zu, die fröhlich plappern und nichts wissen und nichts verstehen. Genauso fühle ich mich auch: Ich weiß nichts, ich verstehe nichts, mein Kopf ist leer. Ich könnte ewig so im Kinderzimmer sitzen.
Nach einer Weile sagt Liz: »Wir sollten heute Abend Gin Tonics zusammen trinken. Kommt ihr rüber?«
»Ja«, antworte ich. »Gin Tonics wären super.«
Ü
ber uns donnern Düsenjäger. Wir zucken zusammen. Thomas sagt, dass man eigentlich die Stadt verlassen müsse, und ich glaube, er hat recht, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo wir hin sollten. Nach Deutschland zurück will ich eigentlich nicht. Aber hier sind wir wohl nicht mehr sicher. Die Düsenjäger scheinen direkt über unseren Köpfen vorbeizuschießen, so laut sind die. Vielleicht haben die Flugzeuge auch so geklungen, kurz bevor sie in die Türme flogen. Ganz dicht, ganz laut. Die Bilder im Fernsehen vermischen sich, die Männer mit den Bärten, das Flugzeug, das wie ein Messer in den Südturm fährt, die implodierenden Türme, die rennenden Menschen, die schwarzen Fahnen, die über der Stadt wehen. Ich rutsche immer tiefer in das Sofa meines Kollegen. Und dann ruft Anja an.
Kristin gibt mir das Telefon.
»Hey«, sage ich.
»Hey«, sagt Anja.
»Ich habe auch schon versucht, dich anzurufen«, sage ich. Der erste Satz, gleich eine Verteidigung. Aber was denn sonst. Ich bin auf der anderen Seite des Flusses, wieder einmal. Auf der falschen Seite jetzt, vorhin, vor anderthalb Stunden war es noch die richtige. Sie hat von Sabine erfahren, dass ich bei Thomas bin. Ich erzähle ihr ein bisschen vom Keller, sie hört zu. Sie sagt mir, dass sie Ferdinand aus der Schule geholt hat. Sie sind jetzt alle zu Hause. »Gut«, sage ich. Es ist ein Gespräch auf der Oberfläche, ein Gespräch, das wir in der Öffentlichkeit führen. Die Sorgen und die Vorwürfe, die Schwüre und die Flüche werden ausgespart. Vielleicht ist es auch gut so. Man muss vorsichtig sein mit Emotionen in solchen Situationen. So fühlen sich Fußballer, die unmittelbar nach einem unglücklich verlorenen Spiel interviewt werden.
»Wann kommst du nach Hause?«, fragt Anja.
»So schnell, wie's geht«, sage ich.
»Wann ist das?«, fragt sie.
»Ich weiß nicht. Fährt denn die Subway wieder?«, frage ich.
»Keine Ahnung«, sagt Anja.
»Hör zu, ich berede mit Thomas noch, was wir als Nächstes machen und dann komme ich«, sage ich.
»Grüße alle«, sagt sie.
Dann donnert wieder ein Düsenjäger, wir zucken zusammen, die Bilder im Fernsehen, ein weiterer Müsliriegel, Kristin schreibt Mails. Es ist immer noch so hell draußen, früher Nachmittag, Spätsommer. Ein Studioexperte erwähnt den Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 1993, und plötzlich fällt mir ein, dass ich auch damals in der Stadt war. Wahnsinn. Ich war 1993 Stipendiat an der Duke University in North Carolina. Im
Spring Break
, den Semesterferien, kamen mich Anja und Ferdinand besuchen. Ich flog für ein paar Tage nach New York, am letzten nahm ich meine Familie am Flughafen JFK in Empfang und reiste mit ihnen nach Durham weiter. Als ich mit der Subway zum Flughafen fuhr, explodierte unterm World Trade Center die Bombe. Wir haben die Bilder der Explosion auf den Bildschirmen an unserem Gate gesehen. Unser Flug hatte ewig Verspätung. Ferdinand weinte, er war ja noch so klein. Wir hatten auf dem Flug nach Durham nicht mal einen Platz für ihn. Er schlief in seinem Babysitz auf der Erde, direkt neben der Bordküche. Und als wir in North Carolina ankamen, hatten die ruppigen amerikanischen Transportarbeiter den Kinderwagen total ruiniert. Er rollte als Wrack auf dem Gepäckband an, Anja weinte, als sie den kaputten Kinderwagen sah. Ein polnischer Kommilitone holte uns mit dem Auto ab. Es war dunkel in North Carolina, mein Motelzimmer war winzig, und es gab keine
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