Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Bürgersteige, auf denen Anja mit Ferdinand spazierengehen konnte. Ferdi weinte die ganze erste Nacht, und als ich ihn meinen ganzen Kommilitonen vorstellte, kotzte er Adam, einem polnischen Fernsehjournalisten, aufs Hemd. Anja bekam einen Lachanfall, mir war es peinlich. In den ersten Nächten habe ich gedacht, dass es ein Riesenfehler war, sie mit hierher zu holen, in diese Studentenwelt. All das erschien mir damals viel bedrückender als der Anschlag auf das World Trade Center, bei dem ja auch eine Menge Leute starben. Er hatte nichts mit mir zu tun. Ich habe es später mal ausgerechnet, ich bin mit der Subway genau unterm World Trade Center entlanggefahren, etwa eine Stunde, bevor die Bombe hochging.
Ich erzähle die Geschichte und merke, während ich sie erzähle, wie winzig sie ist, verglichen mit dem, was wir hier gerade erleben. Wir versuchen auszurechnen, wie viele Leute in den Häusern waren, und kommen auf 20000, vielleicht 25000.
»Eine Kleinstadt«, sagt Thomas.
Das ist wirklich Krieg. Wir schauen auf den Fernseher – Bärte, Flugzeuge, Experten. Es ist ein großer Fernseher.
I ch wähle die Nummer, die Sabine mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Ich kann es kaum erwarten, mit Alex zu sprechen, aber ich habe Angst, dass er jetzt ein anderer Mensch ist. Ich habe Angst, dass wir uns plötzlich fremd sind. Ich weiß ja nicht, was er erlebt hat, dort drüben. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen und ihn festhalten und nicht nach Manhattan gehen lassen. Ich denke an die Szenen, die ich im Fernsehen gesehen habe. Menschen, die vor der Wolke fliehen, sich hinter Autos verstecken, Polizisten, die Menschen stützen und ihnen Taschentücher vor den Mund halten, obwohl sie selbst fast zusammenbrechen. »They are jumping out of the window«, hat eine Frau in die Kamera geschrien. »Sie springen! Ich habe mindestens zwanzig Menschen springen sehen.«
Wir haben keine Erfahrung mit diesen Dingen, Alex nicht, und ich auch nicht.
Mein Großvater war im Zweiten Weltkrieg. Er hat ein Bein verloren und einen Finger, er war im Lazarett und in russischer Kriegsgefangenschaft. Er muss Schreckliches erlebt haben, aber er hat es immer versucht zu überspielen, ist trotz Prothese Rad gefahren und Paddelboot, hat mit meiner Schwester und mir Federball gespielt und versucht, uns mit dem ewig gleichen Trick zum Lachen zu bringen. Er hat den verbliebenen Stumpf seines Fingers an sein Nasenloch gehalten und getan, als stecke die Fingerspitze in seiner Nase. Ich fand das ungefähr so lustig wie Hänsel und Gretel.
»Hast du gesehen, wie Menschen gestorben sind? Hast du jemals einen Menschen erschossen?«, habe ich ihn oft gefragt. Sein Blick wurde dann immer ganz abwesend und er erzählte Anekdoten. Ich hakte nach, es war mir wichtig, ich wollte nicht, dass mein Opa ein Böser war. Er sagte, dass er immer nur in die Luft geschossen habe. Mein Opa ist heute ein alter Mann und lebt im Heim. Neulich hat er mich gefragt, wann denn endlich der Krieg aufhört. »Es ist kein Krieg mehr, Opi«, habe ich gesagt. »Warum soll denn Krieg sein?« Er hat auf die Frauen im Rollstuhl gezeigt und die Männer mit ihren Krücken und gesagt, dass hier so viele Verletzte seien.
Wenn Alex wüsste, dass ich ihn mit meinem Opa vergleiche, würde er sofort einen Witz machen, mir vorspielen, er säße im Rollstuhl, alt, krank und hilflos und keiner kümmere sich um ihn. Er muss alles brechen – mit seinem Spott, mit seiner Ironie. Er kann im Kino hemmungslos weinen, aber wenn ihm wirklich etwas nahegeht, eine Beerdigung etwa, flüstert er mir absurde Kommentare über die Trauergäste oder die Sargträger zu, bis wir uns fast die Lippen blutig beißen, um nicht zu lachen.
Es klingelt, ich warte darauf, dass Thomas oder Kristin sich melden, und es ist mir ein bisschen unangenehm. Ich weiß nicht, was sie gerade durchmachen, da drüben in Manhattan, im Kriegsgebiet. Vielleicht packen sie schon die Sachen zusammen.
Kristin ist dran und gibt mich zum Glück gleich an Alex weiter.
»Hey«, sagt Alex leise.
»Wie geht es dir?«, frage ich.
»Ich mache so was nie wieder«, sagt er. Ich höre kein bisschen Spott in seiner Stimme. Er sagt nicht, was er mit »so was« meint, aber ich hoffe: Ich setze mein Leben nicht mehr aufs Spiel. Ich bleibe bei euch. Wir werden uns nie mehr trennen.
Das ist das, was ich hören will.
Ich drücke den Hörer an meine Wange, ich könnte ewig so zwischen Küche und Wohnzimmer stehen und
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