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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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bleiben, aber Liz ist schon auf dem Weg nach oben. Ich hebe Mascha aus der Schaukel und laufe hinterher. Wir sind kaum in der Küche, da schließt Liz die Fliegengittertür und anschließend die Glastür. Sie sagt, sie an meiner Stelle würde die Kinder nicht in den Garten lassen. Wegen der Wolke vom World Trade Center. Man wisse nicht, was da so drin sei.
    Sie sieht gleichgültig aus, während sie das sagt, fast gelangweilt und so wirkt die ganze Vorsicht angelernt. Liz fürchtet sich nicht, nachts alleine die Straße entlangzulaufen oder ein Segelboot durch den Sturm zu steuern – Liz ist eine großartige Seglerin. Ihre Angst beschränkt sich auf Krankheiten und Bakterien oder Schadstoffe, die diese Krankheiten auslösen könnten. Germs ist wahrscheinlich ihr meistgebrauchtes Wort. Keime. Sie wischt ihre Küche mit Desinfektionsmitteln ab, kauft nur biologisches Essen, gibt ihren Kindern lieber Vitamintabletten als Äpfel, und was ich meinen Kindern koche, ist ihr höchst suspekt. Das Einzige, was Elise bei uns bedenkenlos mitessen darf, nennt sich Annie's Macaroni and Cheese und ist eine Packung mit kleinen Nudeln und Käsesaucenpulver aus dem Supermarkt, die man nur noch mit Milch mischen muss. Alles ist schon fertig, ich kann nichts dazutun, was ihre Tochter vergiften könnte, das akzeptiert Liz.
     
     
     
    T
homas mustert mich von oben bis unten, all den weißen Staub auf meinen Schuhen, meinen Hosen, meinem Hemd und meinen Haaren. Hinter seiner Stirn arbeitet irgendwas. Dann sagt er ärgerlich: »Mann, du Irrer. Hast du nicht schon genug Preise?«, und winkt mich in seine Wohnung. Ich trotte hinterher. Mir fällt ein, wie mir Erich Böhme, mein alter Herausgeber bei der
Berliner Zeitung
, mal sagte: »Zu viele Preise verderben den Journalisten.« Aber ich weiß nicht genau, ob das hierher passt. Ich weiß nicht mal, ob es stimmt.
    Im Wohnzimmer sitzt eine Frau, die ich nicht kenne, dahinter in der Küche schreibt Thomas' Frau Kristin am Computer. Kristin kommt auf mich zugestürzt, umarmt mich. Sie hat Tränen in den Augen, und zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich, was eigentlich passiert ist, wie verletzlich wir sind, wir alle. Es wirft mich fast um. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich verstehe, wie viel Angst ich hatte, und wie allein ich mich da unten gefühlt habe zwischen den beiden Gebäudereinigern aus Brooklyn in der Dunkelheit. Hier sind meine Leute, es ist, als käme ich nach Hause. Ich würde sie am liebsten an den Händen halten, selbst die mir unbekannte Frau, die irritiert auf dem Stuhl in der Zimmermitte sitzt.
    Thomas sieht mich an, schüttelt den Kopf. Ich glaube, er ist gar nicht ärgerlich, er ist besorgt. Er ist mit dem Fahrrad zum World Trade Center gefahren, als das zweite Flugzeug einschlug. Er hat gesehen, wie der erste Turm zusammenfiel, flüchtete mit Feuerwehrleuten zum Hudson River und fiel in den Staub. Dann ist er wieder nach Hause gefahren, zu seiner Familie. Als der zweite Turm fiel, war er bei seiner Frau. Er hat sich verhalten wie ein vernünftiger Mensch. Ich habe mich benommen wie ein Idiot. Ich schlucke meine Rührung hinunter und wackle mit den Armen.
    Die Frau auf dem Stuhl stellt sich vor, sie ist auch aus Deutschland, ein Hausgast, eine Journalistin, die über die
Fashion Week
berichten soll. Kristin fragt, ob ich einen Müsliriegel haben will. Thomas geht nach oben und kommt mit einem Stapel Sachen zurück. Eine Jeans, ein Poloshirt, eine Boxer-Shorts, ein Paar Socken. Er drückt mir den Wäschestapel in die Hand, gibt mir eine Mülltüte für meine staubigen Klamotten und zeigt mir, wo die Dusche ist.
    Die Asche, die ich mir aus den Haaren spüle, zieht in dicken, grauen Schlieren zum Abfluss. Ich schaue ihr mit ein wenig Bedauern hinterher, weil es ja auch ein Teil meiner Geschichte ist, den ich hier wegspüle. Einen Moment lang habe ich Angst, dass mir die Jeans zu eng sein könnten, aber sie passen. Schönes Poloshirt, riecht gut. Im Spiegel sehe ich aus, als würde ich vom Sport kommen.
    Als ich wieder unten bei den anderen bin, esse ich einen von Kristins Müsliriegeln und dann noch einen und noch einen. Ich habe plötzlich unglaublichen Hunger und höre nur auf zu essen, weil ich das Gefühl habe, es wäre unhöflich, weiterzumachen. Ich sitze auf dem Sofa und glaube nicht, dass ich jemals wieder hochkomme. Die Frau in der Zimmermitte fragt, ob die
Fashion Week
nun ausfällt. Sie ist ja nur deswegen hier. So sicher kann man das natürlich nicht

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