Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
kann.
Ich habe sie in der Lokalredaktion der Welt kennengelernt, Mitte der 90er Jahre. Sie kommt aus Hamburg, ihr Vater ist früh gestorben, sie hat eine Schwester, während ihres Studiums war sie drei Monate in Russland. Sie hat bei der Welt angefangen, obwohl ihr die taz näher war. Wir sind uns ähnlich, aber wir sind auch ganz verschieden. Als wir uns kennenlernten, war Ariane Volontärin, lebte in einer WG, hatte eine lose Beziehung zu einem kiffenden Jurastudenten und schon die halbe Welt bereist. Kinder kamen für sie noch lange nicht in Frage.
Ich dagegen war schon ein paar Jahre lang Redakteurin, hatte eine Scheidung hinter mir, lebte in einer festen Beziehung, hatte ein Kind, wollte ein zweites und meine weiteste Reise unternahm ich zu einem Ferienhaus mit Pool in Florida. Familienurlaub.
Arianes Leben kam mir vor wie ein Gegenentwurf zu meinem. Und ich dachte manchmal darüber nach, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre wie Ariane. Es wäre langsamer gewesen, ich hätte nicht gleich studiert und geheiratet, ich hätte länger zu Hause bei meiner Mutter gewohnt, wäre später erwachsen geworden. Und damals bei der Welt hätte ich jeden Abend mit meinen Kollegen ausgehen und am nächsten Morgen ausschlafen können, anstatt nach Hause zu meiner Familie zu gehen.
Manchmal fand ich die Vorstellung reizvoll, manchmal nicht. Und ich glaube, Ariane ging es genauso. Sie schaute auf mein Leben mit der gleichen neidlosen Neugierde wie ich auf ihres und wir dachten über die gleichen Fragen nach, über die großen Fragen des Lebens: Wie lebe ich? Warum lebe ich so? Wäre ich glücklicher, wenn ich ein anderes Leben hätte?
Wir schreiben uns Mails, wir telefonieren, sie freut sich mit mir über jeden kleinen Schritt, der uns das Ankommen erleichtert. Sie hält mich über Berlin und ihr Leben dort auf dem Laufenden. Sie ist auch nicht mehr bei der Welt , sondern beim Tagesspiegel . Dort steht sie jetzt, in der Potsdamer Straße, das Telefon in der Hand, den Fernseher vor Augen. Genau wie ich. Sie ist aufgeregt. Ich bin ruhig. Es müsste andersherum sein. Oder gerade nicht. Ariane kriegt dort in Berlin wahrscheinlich mehr mit als ich, sie liest Agenturmeldungen und sieht Sondersendungen. Und immer wieder die brennende Stadt.
Im Fernsehen bekommt man den Eindruck, als stehe nicht nur Downtown Manhattan in Flammen, sondern auch der Rest von New York. Dabei ist hier in Brooklyn nur der Himmel dunkler. Und stiller ist es, weil der Flugverkehr eingestellt ist. Es ist fast unheimlich, wie normal alles ist.
Ich würde mich gerne der Situation angemessen verhalten, ein bisschen aufgeregter klingen. Aber ich weiß ja nicht mal, was angemessen heißt. Niemand scheint das zu wissen. Debbie verschanzt sich in ihrer Wohnung. Liz hat Angst vor Partikeln in der Luft. Kate und Terry sind mit Freunden in den Park gegangen, um nicht länger vorm Fernseher sitzen zu müssen. Phyllis Chesler redet von Krieg. Eine Mutter aus Maschas Kindergarten hat mir erzählt, wie sie Koffer packte, um mit ihrer Familie aus der Stadt zu fliehen. Als sie fertig war, die Koffer gepackt und das Auto beladen, ging sie zurück ins Haus, weil sie ihren Plan auf einmal unsinnig fand. Unser Freund Richard, der als Anwalt in Downtown arbeitet und wie Alex in die Aschewolke geriet, sitzt in seinem Wohnzimmer und kippt sich Tequila-Shots in den Rachen, bis er das Gefühl hat, stark genug zu sein, um seinen Sohn Teddy, Ferdis besten Klassenkameraden, aus der Schule abzuholen. Teddy ist eines der letzten Kinder in der Schule. Er sieht in den Gesichtern der Lehrer, dass etwas passiert, etwas Großes, etwas Ungeheuerliches. Er weiß noch nicht was. Aber er freut sich, dass endlich mal was los ist in seinem Leben.
Im Internet beschreibt Else Buschheuer in ihrem Blog , wie sie vom Einschlag des zweiten Flugzeuges wach geworden ist – was sie nun macht, was sie denkt. Sie holt sich einen Bagel und eine Flasche Wasser, sie hört Leute schreien, sie kotzt, sie holt ihre Wäsche ab, sie überlegt, ob sie evakuiert wird. Else Buschheuer wohnt in Downtown Manhattan, ich kenne sie nicht persönlich, aber es beruhigt mich, dass nicht weit von mir eine Frau lebt, die meine Sprache spricht und auch nicht weiß, wie es weitergeht.
M
ein Verhältnis zu New York war immer stark durch meine hohen Erwartungen belastet. Als die Mauer fiel und ich zum ersten Mal den Westteil meiner Heimatstadt besuchte, war ich ziemlich enttäuscht.
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