Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
unbeabsichtigt waren diese Bedingungen für die Entscheidungen ausschlaggebend … Selbst wenn diese Entscheidungen nicht gewährleisteten, immer so zu leben und frei zu sein, wie man wollte …
An dem Morgen, als ich versuchte, Yorgos nach all den Jahren aufs neue zu erreichen, mußte ich auch diese Erinnerungen und Gefühle hinterfragen … Er hatte sich also in Frankreich nicht eingewöhnen können … Auch Şebnem hatte sich dort nicht eingewöhnen können … Şeli dagegen setzte ihr Leben in Izmir fort. Was hatte sie zurückgerufen? … Die Antwort auf meine Frage konnte ich nur erhalten, wenn es mir gelang, sie selbst zu treffen. Auch die Erzählung, warum Niso dort lebte, wo er war, war von einer Begegnung abhängig. Ich würde also sehen, was es für mich zu sehen gab. Ich war auf dem Weg und wußte, ich würde nicht mehr umkehren, trotz meiner Befürchtungen, die durch meine Fragen und die Bilder in der Tiefe meines Gedächtnisses erneut aufgekommen waren …
Jener Tag verging, abgesehen von meiner kleinen Zeitreise, wie gewohnt, wie ich seit Jahren gelebt hatte. Beim Abendessen sprach ich mit Çela ein wenig über das ›Spiel‹ und woran ich mich am Tag erinnert hatte. Das Erlebte und das Spiel vermischten sich wieder einmal … Dann, gegen zehn Uhr, rief ich erneut Yorgos an. Dieses Mal antwortete am Telefon eine Männerstimme auf griechisch. Ich ahnte natürlich, wessen Stimme das war. Ich selbst meldete mich auf türkisch. Und sofort bekam ich seine Entgegnung.
»Grüß dich, Isi, ich habe deinen Anruf erwartet, Seta hat mir gesagt, daß du angerufen hast.«
Seine Stimme war so warm und nahe, daß ich sofort das Bedürfnis spürte, mir zu sagen, ganz gleich, was mit uns noch passieren würde, ich hätte mich um unserer Leben willen auf einen sehr bedeutsamen Weg gemacht. Mir war, als hörte sich seine Stimme reifer und weicher an. Eine Stimme, die auf einen weniger zornigen, mehr mit sich im Frieden lebenden Menschen hindeutete. Während ich mit ihm sprach, stellte ich mir sein Gesicht vor, so wie ich es in Erinnerung hatte, und ich versuchte mir auszumalen, wie es sich verändert haben mochte. Deswegen mußte ich mich anstrengen, die ersten Worte zu finden. Was mir lediglich einfiel, war, ihn zu fragen, ob er erstaunt sei, daß ich ihn angerufen habe. Vielleicht war das eine sinnlose Frage, sinnlos in verschiedener Hinsicht. Was sollte ich machen? … Jene Unsicherheit gab mir nur diese Worte ein. Er antwortete mit derselben herzlichen, warmen Stimme.
»Freilich bin ich erstaunt … Aber ich freue mich sehr.«
Ich sagte, ich freue mich ebenfalls, seine Stimme zu hören. Ich war immer noch befangen. Wir schwiegen ein, zwei Sekunden. Wahrscheinlich versuchten wir beide, einzelne Bilder in unserem Geist, unserem Gedächtnis aufzurufen. Dann stellte auch er eine Frage. Diese Frage wurde in vergleichbaren Situationen meistens gestellt, sie war sogar eine der unausweichlichen Fragen.
»Wie hast du mich gefunden? …«
Ich begnügte mich damit zu sagen, daß Necmi mir geholfen habe. Von der Begegnung mit Necmi und was er erlebt hatte, konnte ich natürlich unmöglich am Telefon erzählen. Dafür war die Erzählung viel zu lang … Doch er konnte auf diese meine Antwort hin, trotz der Entfernung, die zwischen uns entstanden war, nicht umhin zu fragen:
»Also Necmi … Was macht der denn? …«
In seiner Stimme klang der Schmerz über die Entfernung an. Dennoch war es schwer, sogar sehr schwer, das Notwendige zu erzählen. Wo sollte ich anfangen, wo einhalten? … Natürlich sagte ich, was in diesen Augenblicken zu sagen möglich war.
»Es geht ihm ganz gut. Wir haben jahrelang keinen Kontakt gehabt. Doch jetzt sind wir fast jeden Tag zusammen. Er hat schlimme Zeiten hinter sich. Er arbeitet als Fremdenführer für Touristen. Er ist dick geworden, ein Mann mit Bauch und Glatze …«
Yorgos lachte ein bißchen, dann schwieg er kurz. Schließlich sagte er:
»Ah, Necmi, du bist mir einer … Also ihr trefft euch, was? … Gut, gut … Und was machst du so? …«
Trotz der Wärme, Weichheit in seiner Stimme entging mir der Abstand nicht, den die Zeit und unsere Lebensgeschichten geschaffen hatten. Vielleicht hatte er sich tatsächlich sehr weit von dem entfernt, was er hier zurückgelassen hatte. Der Grund dafür, daß er so nachdenklich, mit kurzen Unterbrechungen sprach, konnte entweder an diesem Umstand liegen oder daran, daß sich seine Überraschung immer noch nicht gelegt hatte … Deshalb
Weitere Kostenlose Bücher