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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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faßte ich mich auch diesmal kurz.
    »Na, was schon? … Eigentlich nichts Besonderes. Ich habe das Geschäft von meinem Vater übernommen, habe geheiratet und habe zwei Kinder. Der Junge ist auf der Universität, das Mädchen macht gerade auf dem Gymnasium den Abschluß. Ich fotografiere viel. Mein Archiv ist ziemlich gut. Ich schlendere umher, gehe auf Reisen … Man lebt halt so …«
    Was war das doch für eine Zusammenfassung, die ich da gab! Freilich war bedeutsam, daß mir in diesem Augenblick diese Seiten meines Lebens einfielen. Vielleicht waren das die Elemente, die für mich am wichtigsten waren, an die ich mich am meisten klammerte, die ich als mir zugehörig empfand … Vielleicht streifte ich aber nur die ungefährlichsten, am leichtesten zu erzählenden Punkte. Wobei ich mich bemühte, in jenem Augenblick, ohne mir dessen bewußt zu sein, die Wärme und den Schutz meiner Zelle in jenem Gefängnis noch einmal zu spüren … Wir lebten halt so, indem wir uns irgendwo an unserem Erleben und unseren Gefühlen festhielten …
    Doch plötzlich brachte er durch das, was er erzählte, diesen Ablauf um einen Schritt weiter. Ich hörte jetzt die Stimme eines alten Freundes, der sich nicht so sehr beklagte als vielmehr versuchte, den inneren Frieden zu genießen. Seine Stimme schien noch weicher zu sein.
    »Wie wir alle, lieber Isi, wie wir alle … Auch ich bin verheiratet. Nach sechs Jahren in Frankreich bin ich hierhergekommen. Ich habe eine griechische Ehefrau. Sie ist eine sehr gute Frau. Auch ich habe zwei Kinder, doch die sind jünger als deine. Ich habe spät geheiratet und spät Kinder gezeugt. So hat es sein sollen, was kann man machen … Manchmal erzähle ich ihnen von Istanbul. Von Feriköy, von Kurtuluş, von den Ständen der Fischer, von den Thunfischkonservierern, von unserer Schule, von La Paix … Sie hören zu, als erzählte ich ihnen Märchen. Sie können nicht Türkisch. Zu Hause sprechen wir mit ihnen Griechisch und Französisch. Meine Frau kann sehr gut Französisch. Ich habe sie in Marseille kennengelernt, und wir sind zusammen hierhergezogen. So ist das …«
    Wollte er wohl durch seine Worte zum Ausdruck bringen, wie er seinen damaligen Schmerz überwunden, in der Ferne gelassen hatte? … Hatte er vielleicht zwischen seinen Worten Gefühle versteckt, die darauf warteten, daß ich sie verstand, bemerkte? … Von dieser Möglichkeit war ich in dem Augenblick sehr überzeugt … Von ganzem Herzen überzeugt … Um der Liebe willen, die uns noch immer verband, trotz der verschiedenen Lebenswege und Verbannungen, die uns voneinander getrennt hatten … Ein solches Bedürfnis konnte umgekehrt auch bedeuten, daß jener Schmerz im Inneren noch nicht erstorben war, doch, ungelogen, in jenem Augenblick kam mir überhaupt nicht in den Sinn, weiter auf diesen Aspekt der Wahrheit einzugehen. Seine Worte konnten bloß nicht unbeantwortet bleiben. So tat ich, was ich konnte.
    »So ist unser Leben halt verlaufen, Yorgos …«
    Erschienen ihm meine Worte vielsagend genug? … Hatte ich durch meine Stimme meine Gefühle hinreichend ausdrücken können? … Das konnte ich nicht wissen. Daß er weitererzählte, daß er zumindest den Drang danach verspürte, konnte verschiedene Gründe haben. Ich hatte jedoch keinerlei Zweifel, daß ich mit ihm, so wie mit Necmi, selbst nach so vielen Jahren leicht eine Verbindung herstellen konnte.
    »So ist es, lieber Isi, genau so … Ich betreibe hier einen Teppichhandel. Meine Ware beziehe ich aus der Türkei. Außerdem mache ich Theater, ich schreibe Stücke, führe Regie …«
    Diese Worte hätten der Beginn eines ganz langen Gesprächs werden können … Ich wollte ihm in diesem Moment sagen, wie ihn Necmi damals gesehen hatte, und daß wir jener Begegnung, die in gleicher Weise nur in unglaubwürdigen Romanen und Filmen vorkam, verdankten, seine Spur gefunden zu haben. Doch ich verzichtete darauf. Eines Tages würde ich es ihm erzählen. Die Erzählung war bei mir besser aufgehoben. Nun hatte ich den Mut, einen weiteren Schritt zu tun.
    »Führt dich dein Weg nicht manchmal nach Istanbul? …«
    Er antwortete nicht gleich. Aus diesem Schweigen konnte ich vieles herauslesen. Was ich nach diesen Momenten des Schweigens, die mir sehr lang erschienen, zu hören bekam, ließ nicht viel Raum für Ungewißheit. Ich war nicht länger auf meine eigenen Deutungen angewiesen.
    »Das kommt eigentlich nicht vor … Seit Jahren bin ich nicht hingefahren. Eigentlich seit meinem

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