Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Weggang nicht … Manchmal denke ich, ich würde es nicht ertragen … Doch ich habe große Sehnsucht … Nach Izmir bin ich ein-, zweimal gefahren. Geschäftlich war ich einmal in Kütahya, und einmal in den Ferien in Antalya. Doch Istanbul … Istanbul ist etwas anderes, wie soll ich sagen …«
Ich hatte nicht erwartet, daß wir an so einen Punkt gelangen würden. Diese Worte konnten sich auf verschiedene Gesichtspunkte beziehen, in verschiedenen Erzählungen auf verschiedene Gefühle hinauslaufen. Fragen dazu mußte man in anderen Augenblicken stellen. Mit all ihrer Anziehungskraft … Mit all ihrer Befangenheit, ihren Zweifeln, ihrer Melancholie und ihren Widersprüchen … Wie sah er Istanbul inzwischen? Warum erzählte er seinen Kindern davon? … Darauf konnte es viele Antworten geben. Doch mir ging es in dem Moment darum, mir für meine Erzählung noch ein wenig mehr Mut zu holen. Ich versuchte die Tür zu öffnen, voll Unsicherheit ob der zu erwartenden Antwort.
»Vielleicht kommst du jetzt doch mal. Deswegen rufe ich dich nämlich an.«
Nach einem weiteren, kurzen Schweigen gab er seine Antwort in freundschaftlichem, vertrauenerweckendem Ton.
»Schieß los, Isi. Ich höre.«
Konnte diese Stimme auch die eines Menschen sein, der sich verschanzte? … Doch es nützte uns nichts, länger über diese Vermutung zu spekulieren. Ich versuchte von meinem Traum zu erzählen, der mich zu ihm geführt hatte.
»Halt dich fest! … Erinnerst du dich an Istanbul ist mein Leben ?«
Er reagierte nicht gleich. Das hatte ich auch nicht erwartet. Ich sprach weiter.
»Du mußt herkommen, Yorgos … Ich versuche, die ›Truppe‹ zusammenzubringen. Wir wollen das Stück noch einmal spielen. So wie früher, alle gemeinsam … Ich weiß nicht, ob alle kommen, aber ich tue, was ich kann. Als ich hörte, daß du ein solcher Theaterprofi geworden bist, war ich plötzlich noch begeisterter.«
Ich hielt inne. Dieses Mal mußte ich eine Antwort kriegen. Er ließ mich nicht lange warten. Seine Stimme war wieder warm, doch sie klang nachdenklich.
»Das ist sehr gut gedacht von dir. Das alte Team, ja? …«
Wieder herrschte Stille. Mit welchen Stimmen und Bildern erinnerte er sich nun wohl an das Spiel? … Oder wieweit erinnerte er sich, wollte er sich erinnern? … Ich hatte bis zu diesem Moment den Eindruck gehabt, er habe während unseres Gesprächs aus irgendeinem Grund ständig gelächelt. Wenn das stimmte, lächelte er nun immer noch? … Und wenn er lächelte, über wen oder was lächelte er? … Ich bekam auf diese Frage nicht wirklich eine Antwort, als er das Gespräch fortsetzte. Seine Stimme war nun die eines Menschen, der vieles durchgemacht hatte. Die Stimme eines Menschen, der viel durchgemacht hatte … Warum verbohrte ich mich so sehr in die Interpretation dieser Stimme? … Vielleicht wollte ich hören, was ich zu hören wünschte, wer weiß …
»Na ja … Im Augenblick bin ich ein bißchen ratlos … Istanbul, das alte Team … Aufregend ist das schon …«
Ich konnte den Punkt sehen, auf den das Gespräch zusteuern sollte, oder zumindest wollte ich glauben, daß ich ihn sah. Oder sah ich wieder das, was ich sehen wollte? … Oder … Oder meldete sich wieder eine Wunde, obwohl sie mit den Gefühlen vieler unterschiedlicher Zeiten verbunden worden war? … Die Zeit würde zweifellos wieder einmal die glaubhafteste Antwort bringen oder die, die am glaubhaftesten aussah. Doch diese Aussicht gefiel mir nicht. Es schien so, als wäre ich plötzlich rücksichtslos auch in sein Leben eingedrungen. In dem Moment fühlte ich Unsicherheit und sogar eine leichte Reue. Doch ich mußte mich von diesem Gefühl befreien, unbedingt. Sonst konnte ich jenen Weg nicht zurücklegen. Ich versuchte, sowohl ihn als auch mich in die Stimmung des Spiels zu versetzen.
»Laß dir mit der Antwort Zeit, ja … Necmi ist bereit. Und sehr aufgeregt. Er findet, daß Schwung in unser Leben kommt. Meine innere Stimme sagt mir, daß wir auch Niso finden werden. Der ist nach Israel übergesiedelt. Ich habe ihn noch nicht gefunden, doch ich werde ihn finden, ganz sicher, das weiß ich …«
Er hörte weiter zu, ohne etwas zu erwidern. Höchstwahrscheinlich war es ihm nicht so wichtig, wohin Niso warum gegangen war und ob er kommen würde. Vielleicht wäre es ihm später wichtig; wenn er jene Schritte tun konnte, wäre es ihm sicher wichtig. Doch dieser Augenblick erforderte etwas anderes. Es war klar, wohin das Gespräch jetzt steuerte.
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