Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Erlebnisse erzählt hatte … Wir waren allein. Wieder versuchten wir in der Küche unser Heim und unser Zusammensein zu teilen. Ich sagte auch, daß ich nach Izmir fahren wolle. Sie gab keinen Kommentar ab, nur daß sie es richtiger fände, wenn ich diese Reise allein machte. Aus dieser Haltung konnte ich mehrere Schlüsse ziehen. Doch mir erschien es in dem Moment besser, keine Bemerkung zu machen, sondern zu schweigen. Was es zu besprechen gab, würde sowieso wohl oder übel zur rechten Zeit besprochen werden.
Ich sagte aber Şeli nicht, daß ich sie besuchen würde. Es erschien mir reizvoller, sie zu überraschen. Zudem wollte ich ihr nicht auf dem Flughafen begegnen. Ich ließ mir im Efes-Hotel ein Zimmer reservieren. Dieses Hotel hatte in meinem Leben einen wichtigen und bedeutsamen Platz. Zum ersten Mal war ich mit meinen Eltern in Izmir gewesen. Damals war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, ein introvertierter, äußerst stiller, schüchterner Junge, der viele Gefühle, Schmerzen, Enthusiasmus, Freude, Befürchtungen in sich verschloß. An die hinter mir liegende Kindheit wollte ich mich niemals erinnern, weil ich keine Kindheit gehabt hatte, nach der man sich sehnen konnte. Vielmehr wollte ich vor jenem Kind immer fliehen. So weit ich konnte … Wobei ich wußte, daß dies nicht gänzlich möglich war … In späteren Jahren tat mir jenes Kind leid. Denn das Kind hatte nie die Gelegenheit gehabt, auf sich stolz zu sein … Was ich fühlte, war verletzend, und zwar sehr … Und es war noch verletzender, daß mich meine Eltern dieses Gefühl in aller Härte hatten spüren lassen. Sie erwarteten von mir, was immer das jetzt bedeuten mag, die Werte und Eigenschaften eines Mannes, der sich dem Leben gegenüber durchsetzte. Mehr konnte man nicht erwarten von Menschen, die es als Vorzug ansahen, nicht über ihre Grenzen hinauszugehen. Widerspruch wurde in Familien wie meiner nicht leicht akzeptiert. Solche Familien gründeten ihre Existenz nämlich nicht auf einer Suche, sondern auf Fortdauer. Ohne sich auch nur klarzumachen, zu welchen stillen Morden diese Erwartungen führten, führen können. Als ich mich erneut an manche verborgenen Tode erinnerte, die im dunkeln geblieben waren, und an diesen von anderen hartnäckig geleugneten Aspekt, erfüllte mich eine bittere Freude … Ich hatte sehr schwere Tage irgendwo hinter mir gelassen. Diese Überzeugung verlieh mir ein kleines, trauriges Siegesgefühl. Die Bilder jener alten Reise waren trotzdem eine Erinnerung wert, trotz allem, was sie wachriefen …
Wir hatten in einem Hotel am Kordon gewohnt. Es war mir als ein sehr schickes und pompöses Hotel erschienen, entweder weil ich zum ersten Mal in einem größeren Hotel wohnte oder weil es damals wirklich so war. Als ich viele Jahre später wieder dorthin kam, erlebte ich eine Riesenenttäuschung. Es war nichts mehr übrig von diesem Pomp, diesem Schick. Ich bereute, noch einmal hergekommen zu sein. Doch dafür war es zu spät. Ich hatte gesehen, was ich sehen mußte … Das ist das Schicksal vieler Orte, die wir in unserer Phantasie mit den Eindrücken der Vergangenheit bewahren. Wer es erlebt hat, weiß das. Städte, Wohnbezirke, Straßen, die man jahrelang nicht gesehen hat, die einen aber irgendwie beeindruckt haben, können einem jederzeit dieses böse Spiel spielen …
Von den Bildern dieser ersten Reise sind mir noch die schmale, mit gemusterten Steinen geschmückte Uferpromenade des Kordon im Gedächtnis geblieben, im Messepark der kleine Teich vor dem Restaurant, die Schwäne auf dem Teich und die Fische, die sich um die Brotbrocken versammelten, ein Teegarten, der wohl in Alsancak lag, und der Verkäufer von ›Fischeiern‹, der zu uns kam … Die Rogenstücke waren klein. Mein Vater ließ die Gelegenheit nicht aus, seinen Kommentar dazu abzugeben. Der Verkäufer aber, der enttäuscht war, weil seine Ware nicht gefiel, spielte sich ebenfalls auf und schnitt mit dem Taschenmesser eins der Stücke in der Mitte durch, um es zu zeigen. Vielleicht waren die Stücke klein, aber die sie umhüllende Bienenwachsschicht war sehr dünn. Diese Demonstration reichte aus, meinen Vater zu beeindrucken und zu überzeugen. Ich vermute, der Händler erkannte, daß wir Juden waren. Es war ein älterer Mann. Die Jahre hatten ihn gelehrt, wo, wem und wie er seine Ware verkaufen mußte. An jenem Tag waren alle mit den getätigten Einkäufen sehr zufrieden.
Um nun zum Aussehen des Efes-Hotels in jenen Tagen und zu der
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