Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ich in spätestens einer Stunde einem Menschen wiederbegegnen würde, der in meinem Leben tiefe Eindrücke hinterlassen hatte … Ich versuchte Ruhe zu bewahren. Ich schaute in den Spiegel. Ich konnte nicht sagen, wie sehr ich mich verändert hatte. Sollte ich ihr gegenübertreten mit der Besonnenheit, die mein Alter verlangte? … Ich lächelte. Ich sagte mir, es sei das wichtigste, meine Spontaneität nicht zu verlieren und die Sache auf mich zukommen zu lassen. Es paßte nicht zu dieser Erzählung, zum Geist, zur Einfachheit dieses Wiedersehens, wenn ich mich zwang, ein anderer zu sein. Wir waren halt die, die wir geworden waren. Um die Wartezeit leichter zu überstehen, versuchte ich, mich mit allerlei Dingen zu beschäftigen. Ich nahm meine Hose, mein Hemd, meine Unterwäsche, meine Socken aus der Tasche und verstaute alles im Schrank; ich holte die Zahnpasta, die Zahnbürste, den Rasierapparat und mein Parfum heraus und legte alles auf die Ablage im Bad. In dem Moment dachte ich daran, bei der Abreise die kleinen Plastiktuben mit dem Shampoo und der Flüssigseife des Hotels mitzunehmen. Eigentlich beging ich diesen kleinen Diebstahl immer. Das war vielleicht kein Diebstahl, nicht mal ein kleiner, aber es machte mir immer Spaß, dies so zu empfinden. Unser Bad zu Hause war voll mit solchen unbenutzten Fläschchen voll Shampoo, Duschgel, Flüssigseife aus verschiedenen Hotels. Doch dieser Anlaß war anders, und er würde seine Andersartigkeit immer behalten, das wußte ich. Dieses Mal ging es darum, ein Andenken zu gewinnen, um ein Hotel, das nur in der Erinnerung von einigen Menschen weiterleben würde, mit einem sehr zarten Detail, das nur mit der Zeit seinen Wert gewinnen würde, an einen anderen Ort, womöglich auch in eine andere Zeit zu tragen …
Ich schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle. Es gab kein einziges sehenswertes Programm, nicht einmal ein einzelnes Bild. Ich resignierte. Die Schwärze und das Schweigen des Bildschirms waren interessanter. Ich legte mich wieder aufs Bett und schaute auf die Uhr. Genügend Zeit, mich ein wenig auszuruhen und zu träumen. Ich schloß die Augen und versuchte, mir vorzustellen, wie und wie sehr Şeli sich verändert haben mochte. Müde von der Reise, duselte ich ein. Unter das, was ich sah, mischten sich jetzt unbestimmte, abgerissene Bilder einer fernen Vergangenheit, die sich vermengten und deren Stimmen in einem Nebel zu hören waren. Ich befand mich zwischen Wachen und Schlaf. Plötzlich hatte ich Sorge, mich sehr weit von der Gegenwart entfernt zu haben, und öffnete die Augen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich schaute auf die Uhr. Es waren nur zwanzig Minuten vergangen. Ich kam von einem Ort, den ich vergessen geglaubt hatte. Elmadağ, Harbiye, Osmanbey, Şişli 12 … Alle diese Orte hatten sich vermischt … Wie konnten so viele Orte in eine so kurze Zeitspanne hineinpassen? … Ich stand auf, ging ins Bad, wusch mir das Gesicht und trocknete es mit dem weichen Handtuch ab. Wieder lächelte ich den Mann im Spiegel an … Um mir Mut zu machen … Ich sprühte ein wenig Parfum auf Hals und Wangen. In der Hoffnung, etwas mehr Selbstvertrauen zu gewinnen … Dann verließ ich das Zimmer und fuhr hinunter. In der Lobby setzte ich mich so hin, daß ich den Eingang gut im Blick hatte. Noch einmal fragte ich mich, wie sie sich wohl verändert haben mochte. Vielleicht würde ich sie nicht mal gleich erkennen. Jeden Augenblick konnte sie eine von den Frauen sein, die durch die Drehtür hereinkamen. Ich schaute wieder auf die Uhr. Der Zeitpunkt war gekommen. Ich versuchte, mich abzulenken, beziehungsweise meine wachsende Anspannung zu verringern, indem ich in der Zeitung las, die auf dem Tischchen vor mir lag. In solch einem Zustand konnte ich unmöglich verstehen, was ich las. Ich betrachtete nur die Bilder und das Geschriebene. Nach kurzer Zeit war mir, als riefe mich eine Stimme, und ich hob die Augen von den Seiten, die mir immer unverständlicher wurden. In der Mitte der Lobby stand eine Frau, die offensichtlich ein wenig ratlos um sich blickte, in der einen Hand eine Tasche, die wie ein Koffer der Marke Louis Vuitton aussah, in der anderen Hand das aus unser aller Leben nicht mehr wegzudenkende Handy. Eigentlich konnte ich nicht wirklich feststellen, wie ratlos sie war. Denn ihre Augen waren von einer riesigen Sonnenbrille verdeckt, die an Autoscheinwerfer erinnerte. Ob sie das wohl war? … In dem Moment setzte sie die Sonnenbrille ab, als
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