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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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wollte sie meine Frage beantworten. Als ich ihre Augen sah, hatte ich keinen Zweifel mehr. Ihre einst hellbraunen, ins Rötliche spielenden Haare, die sie als junges Mädchen möglichst lang hatte wachsen lassen, waren kinnlang und in einem Farbton gefärbt, der an Zwiebelschalen erinnerte. Als sie ihre Sonnenbrille wie ein Diadem in die für mich neuen Haare steckte, trafen sich unsere Blicke. Ich erhob mich langsam aus dem Sessel und ging auf sie zu. Auch sie näherte sich mit leichtem Lächeln. … Ich sah ihre bernsteinfarbenen Augen nun noch besser. In dem Augenblick wollte ich nur zu gerne glauben, daß ihr Licht noch immer das alte war. Was ich sehen konnte: Sie war im Vergleich zu früher viel schöner geworden. Sie hatte die Fünfzig überschritten, doch wenn ich sie nicht gekannt hätte, hätte ich geglaubt, sie sei Anfang Vierzig. Wir umarmten einander fest. Eine Weile blieben wir so, ohne zu sprechen. Wir streichelten uns gegenseitig den Rücken. Um einander in dem Moment fühlen zu lassen, was wir fühlen lassen konnten … Ich merkte, daß wir innerlich zitterten. Ein Zittern, das wir nicht verbergen wollten … Was sollten wir auch warum verbergen wollen? … War nicht jedes Zittern ein Sehen und Sich-Zeigen in anderer Form? … Dann küßte ich sie auf die Wangen nahe am Mund. Sie erwiderte den Kuß. Fast hätten sich unsere Lippen berührt. In dieser Vereinigung konnte ich vielleicht den Kuß eines Mannes und einer Frau sehen, die sich inzwischen sehr gut hinzugeben wußte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, doch viel mehr noch war es Freundschaft, unzerstörte Liebe und die Sehnsucht vieler Jahre. Meine Hand lag auf ihrer Schulter. Ich lächelte. Sie lächelte. Ich tat den ersten Schritt. Schließlich mußte einer von uns beiden anfangen. Ich wußte, daß unsere gemeinsame Aufregung sich in meiner Stimme niederschlug. Das war egal. Dieses Zittern war echt und war in jenen Augenblicken voller Bedeutung …
    »Komm, setzen wir uns … Bei deinem Charme versagen mir die Füße …«
    Sie kniff ein wenig die Augen zusammen und lächelte leicht verführerisch … Wir setzten uns. Sie schlug die Beine übereinander. Sie trug einen glatten, kaffeebraunen Rock, der vorne geschlitzt war. Ich konnte die Blicke nicht von ihren Beinen abwenden. Sie sagte, daß sie vom Gedränge in der Stadt Kopfschmerzen habe. Ich fragte sie, ob sie einen Kaffee trinken wolle. Sie sagte, leicht gesüßter türkischer Mokka würde ihr jetzt sehr gut tun. Ich rief den Kellner und bestellte uns beiden einen Mokka. Während sie lebhaft redete, als wären inzwischen nicht so viele Jahre vergangen, fuhr ich still und leicht lächelnd fort, sie zu mustern. Um die Augen hatte sie zarte Krähenfüßchen. Ihre kindlichen Sommersprossen ließen sie sehr jung erscheinen. Damals hatte sie sich über ihre Sommersprossen beklagt. Erschien ihr dieses Merkmal vielleicht inzwischen als ein kleines Elixier des Glücks? … In dem Moment bückte sie sich und nahm ihre Tasche, die auf dem Boden stand, auf den Schoß. Obwohl die Knöpfe ihrer weißen Bluse so weit zugeknöpft waren, daß man ihre Brüste nicht sah, erblickte ich, als sie sich vorbeugte, von der Seite die Spitzen ihrer Unterwäsche. Auch damals schon als junges Mädchen waren ihre Brüste nicht schlecht gewesen. Doch soweit ich sehen konnte, waren sie inzwischen ziemlich gewachsen … Merkte sie wohl, wohin ich schaute? … Ich hatte mir oft klargemacht, daß Frauen in solchen Situationen jede Einzelheit bemerken, auch wenn sie dies nicht erkennen lassen. Doch sie schaute gerade so angespannt aus, daß ihr dieses Detail entgehen mochte. Sie nahm ihre Zigaretten aus der Tasche, dann nach einer etwas nervösen Suche auch ihr Feuerzeug … Aha, noch eine Veränderung, sagte ich mir. Früher hatte sie nicht geraucht, sondern vielmehr uns wegen unseres Rauchens ab und zu eindringlich ermahnt … Sowieso wirkte die Zigarette in ihrer Hand eher wie ein Accessoire. Was für einen Genuß konnte dem Menschen schon eine dünne Zigarette mit einem Feldblumenmuster an den Enden bereiten … Ich tat einen weiteren Schritt.
    »Was für eine tolle Frau du doch geworden bist …«
    Mein Vorpreschen zeigte leichte Wirkung. Ihr Lächeln auf meine Worte hin war ein wenig wärmer und weiblicher. Doch in ihrem Gesicht schien auch eine Reinheit zu liegen. Eine Reinheit, die ich sah, weil ich sie sehen wollte, die ich spürte, weil ich unbedingt daran glauben wollte, daß sie nicht verschwunden war …

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