Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Entscheidung meines Lebens war …
Danach bin ich wirklich sehr oft nach Israel gefahren. Ich tat mein möglichstes, um Avi zu beweisen, daß ich nicht nur seine Mutter war, die trotz allem an ihn dachte, ihn vermißte und liebte, sondern auch keine böse Frau. Für David hegte ich die gleichen Gefühle. Auch ihm half ich sehr, sich wieder zu berappeln. Wie absonderlich ist doch die mütterliche Sorge … Er verwandelte sich erstaunlicherweise in einen friedlichen und harmonischen Menschen. Er trank viel weniger. Es ist schwer vorstellbar, doch so war es tatsächlich. Ich habe für ihn sogar, halt dich fest, eine neue Frau gefunden. Sie fanden es nicht bedenklich, den Versuch zu wagen, und heirateten. Sie ist eine unbefangene Frau, Journalistin, hat schon vier Ehen hinter sich und fünf Kinder. In den folgenden Jahren sah ich, daß diese Ehe sehr gut lief und niemand unglücklich war. Ich habe halt alles getan, um mein Gewissen zu beruhigen. Manchmal ging es mir aber schon nahe, daß David in einer anderen Ehe gefunden hatte, was er suchte. Doch ich will mich nicht über meine Lage beschweren. Zwischen Avi und mir hat es im Laufe der Zeit einige Probleme gegeben. Ich habe diese Probleme als den Preis für meine Entscheidung anerkannt und sie zu lösen oder zu ertragen versucht. Letztlich ist jeder auf seine Weise erwachsen geworden, hat seinen Weg gefunden und gelernt, was er lernen konnte.
Jetzt scheint der Sturm sich gelegt zu haben … Ich fliege jetzt sogar geschäftlich nach Israel … Selim hat mich immer unterstützt. Die großen Leidenschaften haben wir weitgehend hinter uns gelassen. Trotzdem ist mein Leben nicht schlecht, ich bin zufrieden. Er mag dir ein bißchen besserwisserisch erscheinen, doch er ist ein guter Mensch. Er weiß zu leben und zu sprechen. Manchmal findet er zu den unerwartetsten Themen noch etwas zu sagen. Über das Arztsein, den Antiquitätenhandel, die Musik … Manchmal regt der Mann einen auf. Wo und wie hat er das alles erfahren, das verstehe ich nicht. Aber der Schlingel ist sympathisch. Du wirst ihn ebenfalls mögen, kein Zweifel.
Wir haben kein Kind. Wir wollten es beide nicht. Manchmal kommt Avi her. Der sieht wirklich gut aus, der Lausbub, glaub mir. Er hat seinen Militärdienst schon geleistet, sogar in einer Spezialeinheit. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst ich damals hatte. Jetzt fängt er an zu studieren. Er will Soziologie studieren. Gib nichts drauf, daß ich ›Spezialeinheit‹ sage, der Bengel ist inzwischen ein totaler Kriegsgegner. Er nimmt an Demonstrationsmärschen teil, hat Ämter in Organisationen übernommen, unterstützt Verweigerer aus Gewissensgründen … Was mag er in den Gefechten, an denen er als Soldat teilnehmen mußte, nicht alles erlebt haben … Hoffentlich bringt er sich nicht in Schwierigkeiten … Doch das ist nun sein Leben. Was kann man machen … Ich habe schon längst aufgehört, mich wie eine Mutter zu gebärden, die sein Leben dirigiert. Außerdem lebt er in einem Land, wo das nahezu unmöglich ist. Doch wenn die Umstände anders wären, hätte ich es auch nicht getan. Nach allem, was ich erlebt habe … Nach dem, was man mit mir gemacht hat … Wer weiß, was wir eines Tages noch tun werden. Das ist mein Leben, mein Lieber … Und? … Bist du beeindruckt? …«
Ihre Augen waren feucht. Sie lächelte … Sie sah nicht aus wie eine Frau, die unglücklich war und ihre Taten bereute, sondern wie eine, die gegen den Preis protestierte, den sie gezahlt hatte, hatte zahlen müssen, die tief in ihrem Innersten verletzt war, aber doch stolz, sich mit den Schmerzen ausgesöhnt zu haben, die ihr diese Opfer abverlangt hatten, und stolz, noch immer aufrecht zu stehen. Ich erkannte sie jetzt besser. Sie sah sehr schön aus. Ihr Gesicht war viel schöner, viel ausgeprägter als in ihrer Jungmädchenzeit … Ich hatte ihrer Erzählung geduldig zugehört, nur manchmal mit Blicken reagiert und sehr kurze Anmerkungen gemacht.
Was ich mit ihr in Izmir teilte, beschränkte sich nicht auf die Grenzen dieser Erzählung. Sogar ihre an mich gerichtete Frage am Ende ihrer Erzählung zeigte, daß unser Gespräch an dieser Grenze nicht zu Ende war. Ich merkte, ich würde mich nicht aufs reine Zuhören zurückziehen können. Ich wurde aufgefordert, mich selbst einzubringen … Zweifellos war ich beeindruckt. Es hatte keinen Sinn, mein Gefühl zu verleugnen. Ich spürte nämlich, daß ich dasselbe wollte wie sie. Ich zog an meiner Zigarre und
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