Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
zurechtzukommen versuchten … Ich täte sogar ein gutes Werk. Ich stimmte zu. So habe ich auch dieses kleine Mädchen kennengelernt. Sie kam immer zusammen mit ihrer Mutter. Sie war so neugierig, stellte so kluge Fragen … Innerhalb kurzer Zeit hatte ich sie liebgewonnen … Ihr Türkisch war fehlerhaft. Ich kümmerte mich dann so gut wie möglich um sie und bezahlte auch das Schulgeld für sie. Sie schloß das Gymnasium mit Auszeichnung ab. Ich brachte ihr alles bei: Haltung, Manieren, höfliche Konversation, stilvolle Kleidung … Alles, was ich wußte … Sie sog alle meine Worte auf. Unglaublich schnell und begierig … Ihre Eltern haben sich sehr bemüht, aber nicht geschafft, hier Fuß zu fassen. Sie sind in ihre Heimat zurückgekehrt, nachdem sich die Lage dort beruhigt hatte. Doch Berfin konnte nicht mehr zurückkehren. Sie lebt jetzt bei ihrer Tante. Mit dem Geld, das sie hier verdient, trägt sie auch zum Haushaltseinkommen bei. Gut, schön, was? … Doch wenn ich dir nur soviel erzählen könnte! Wenn doch die Erzählung so gut weiterginge! … Der ältere Bruder des Mädchens ist ebenfalls nicht zurückgekehrt. Doch der hat sich als ein richtiger Strolch entpuppt. Sie hat schreckliche Angst vor ihm. Offen gesagt habe selbst ich Angst. Manchmal kommt er hierher. Einmal habe ich unter seiner Jacke sogar eine Waffe an seinem Gürtel gesehen. Heroin, Glücksspiel, in alles mögliche ist der Kerl verwickelt … Berfins Verlobter ist der Freund des Bruders. Natürlich wurde sie zwangsweise verlobt. Das arme Mädchen will überhaupt nicht. Doch was kann ich machen? … Ich habe alles für sie getan wie eine große Schwester, wie eine Mutter, aber irgendwo ist Schluß … Das heißt … Selim sagt, ich solle mich nicht weiter in diese Angelegenheit einmischen. Vielleicht hat er recht. Doch ich weiß, sie ist ein mutiges Mädchen. Meiner Ansicht nach wird sie auch diese Sache hinkriegen. Ich weiß nicht, wie, aber sie wird es schaffen. Wenn sie sich ihrem Schicksal beugt, wie wird sie das ihr zugedachte Leben dann ertragen? … Jetzt, angesichts dieser Lage, denke ich sogar, ob ich es wohl richtig gemacht habe, daß ich ihr das alles gegeben habe. Dabei habe ich all die Jahre nie daran gezweifelt …«
Was sollte ich dazu sagen? … Ich schwieg, versuchte schweigend zu verstehen und mich mitzuteilen. Ich dachte wieder einmal, was für tragische Schicksale sich doch hinter manchen Bildern versteckten … Was für Schmerzen und Ängste verbargen sich doch hinter manch einem Lachen … Was manches Lachen eigentlich erzählen wollte, was erwartet und nicht gesagt wurde … Wenn ich weiter nachgedacht hätte, wären mir sicher noch andere Fälle eingefallen. Über dem, was ich gehört hatte, hatte ich sogar mein Gefühl von vor ein, zwei Stunden vergessen … Ja, wenn's hoch kam, lagen zwei Stunden dazwischen … Zwei Stunden, die mich die Zeit auf andere Weise hatten erleben lassen … Doch Şeli hatte nicht vergessen. Als sie in die Küche ging, um uns, wie sie sagte, frischen Kaffee zu machen, konnte ich das nur so deuten, daß sie von mir erwartete, ich solle ausführlicher über Necmi erzählen. Wieder blieb ich ein Weilchen allein. Ich mußte meine Umgebung nicht länger betrachten. Ich hatte derartig gemischte Gefühle … Berfin, Necmi, Şebnem, Yorgos, Şeli … Die Bilder und Stimmen vermischten sich … Wie konnte sich das Leben mancher Menschen doch durch andere derartig verändern … Was war das für ein Landstrich? … Was für eine Geschichte? … Wer, was verursachte jenes Unrecht? … Wie würden uns die Menschen nach vielen Jahren sehen, was würden sie über uns denken? … Ich versank in Gedanken … Ich stand mit den Händen in den Taschen vor der Glastür und schaute auf die Passanten auf der Straße, doch ich sah eher die Bilder in meinem Inneren … Deswegen merkte ich es nicht, als sie wiederkam und den Kaffee brachte. Hätte sie mich gelassen, wer weiß, wohin ich noch abgedriftet wäre. Doch ihre Stimme und noch mehr ihre unverblümten Worte, mit denen sie verlangte, von Necmi und seiner Geschichte zu erfahren, reichten aus, mich augenblicks in ihre Gegenwart zurückzubringen.
»Ich bin wirklich gespannt, was passiert ist … Was war das doch für ein Junge! … Solche wie er werden entweder Ministerpräsident, oder sie werden hingerichtet …«
Sie dachte sich sicher nichts dabei. Sie wußte ja nicht, was er erlebt hatte. Sie versuchte nur auf ihre Weise zu sagen, wie sie Necmi sah.
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