Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Ich drehte mich um und schaute, was hinter meinem Rücken geschah. Sie hatte sich gesetzt und tat Süßstoff in ihren Kaffee. Ich ging zu ihr hin und setzte mich langsam wieder ihr gegenüber. Ihre Worte hatten mich dennoch betroffen gemacht. Deswegen versuchte ich, in meine Antwort, die meine Gefühle zeigte, einen leisen Vorwurf zu legen. Zudem war es gar nicht schlecht, die Erzählung von dieser Seite aus zu beginnen.
»Er ist ja tatsächlich zum Tode verurteilt worden … Und er hat sieben Jahre gesessen …«
Als sie das hörte, faßte sie sich zugleich an die Stirn, blinzelte und senkte den Kopf. Sie verstand und war sehr bekümmert. Das konnte ich spüren. Dieses Mal spielte sie nicht.
Wir waren nun bereit. Ich erzählte die Geschichte. Soweit wie möglich, mit allen Einzelheiten, an die ich mich erinnerte, mit meinen Kommentaren … Beim Zuhören lachte sie stellenweise, manchmal füllten sich ihre Augen mit Tränen, manchmal war sie empört. Es war nicht leicht. Ich erzählte nicht nur die Geschichte unseres Freundes, sondern die Geschichte dessen, was in diesem Land passiert war … Auf dem Weg durch diese Geschichte mußten wir natürlich viele Punkte aufs neue sehen, uns gegenseitig daran erinnern.
Die Theaterstücke jener Tage kamen ebenfalls vor. Asiye Nasıl Kurtulur ( Wie Asiye gerettet wird von Vasıf Öngören), Keşanlı Ali Destanı ( Die Ballade von Ali aus Keşan von Haldun Taner), Cadı Kazanı ( The Crucible von Arthur Miller) … Und Salıncakta Iki Kişi ( Two for the Seesaw von William Gibson). Sie hatte Tränen in den Augen … Wir beide erinnerten uns an das Stück trotz unseres unzuverlässigen Gedächtnisses. Und auch daran, wie diese beiden Personen sich an ihrem Protest hatten festhalten wollen … Wie hoch konnte man seine Gefühle auf seiner Schaukel in die Luft schwingen? … Wie hatten wir diese Möglichkeiten doch lang und breit diskutiert. Damals hatten wir ganz andere Hoffnungen, Erwartungen ans Leben gehabt und natürlich auch Ängste. Hatten wir befürchtet, in Zukunft das zu erleben, was wir auf jener Bühne gesehen hatten? … Protestierten wir gegen unsere Eltern, unsere Familien, die nicht in so eine Schaukel gestiegen waren und uns zu einem Leben wie dem ihren zu zwingen versuchten? … Waren unsere Ängste unser Widerstand? … War es uns gelungen, uns ausreichend zu befreien, uns zu kennen, zu leben? … Diese Frage wollten wir beide nicht stellen, und wenn wir sie gestellt hätten, hätten wir sie nicht beantworten wollen. Das Leben war halt so gelebt worden … Es war das gelebt worden, was man hatte leben können … So waren wir an den Punkt gelangt, dem wir nicht ausweichen konnten … Ihre Blicke drückten ganz unverhüllt die Trauer über dieses Unvermeidliche aus … Ich fühlte, daß sie reden wollte, und schwieg. Sie zündete eine Zigarette an. Der Ort, wohin sie in Gedanken gegangen war und mich führen wollte, war sehr wohl bekannt. Die Zeit war vielleicht weit entfernt, doch für diesen Moment sehr nahe …
»Nachdem wir uns an jenem Abend nach dem Theater von euch getrennt hatten, sind wir nach Elmadağ gegangen, um irgendwo etwas zu trinken … Wir standen dermaßen unter dem Eindruck des Theaterstücks … Doch wir hatten eine Hoffnung. Eine Begeisterung … Wir würden uns dem Schicksal nicht beugen … Wir würden nicht so sein wie jene Menschen. Der Tisch, an dem wir saßen, schaute auf die Straße hinaus. Wir beobachteten die Passanten. Was haben wir uns für Geschichten über die Paare mit ›Lebenserfahrung‹ ausgedacht … Wir haben uns kaputtgelacht …«
Ich ließ mich von ihren Gefühlen mitreißen. Es war jetzt genau der richtige Zeitpunkt, daß ich davon sprach. Ich würde es sowieso sagen. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten, es aufzuschieben.
»Ich habe auch Yorgos' Spur gefunden.«
Sie guckte und versuchte zu lächeln. Ich sah, daß sie auch jetzt nicht spielte. Unsere Verteidigungsmauern waren sowieso längst zusammengebrochen. Sie fragte mit leicht zitternder Stimme das, was sie fragen wollte, ganz geradeheraus.
»Geht es ihm gut? … Wo ist er jetzt? …«
Ich erzählte wieder, was ich wußte. Welch großen Kampf es ihn gekostet hatte, sein Leben in Athen einzurichten, daß er zwar nicht nach Istanbul zurückgekehrt sei, aber dennoch die Verbindung zu dem Land, wo er einen Teil von sich gelassen hatte, nicht hatte abbrechen können, und vor allem, daß er mehrmals in Izmir gewesen sei … Die letzte Bemerkung war
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