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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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schüttelte sie. In meiner Ratlosigkeit wußte ich einfach nicht, was ich machen sollte. Ich sah, daß ihre Lippen leicht zitterten bei meinen Worten, und merkte, daß ich nicht weiter gehen durfte. Ich schwieg. Die Stille dauerte nicht lange. Ein paar weitere Worte flossen aus ihrem Mund. Ein paar Worte, die vielleicht einen Protest, vielleicht auch Ratlosigkeit oder Angst ausdrücken wollten … Ich hörte auch dieses Wimmern.
    »Geh weg von hier! … Geh sofort! …«
    Meine Hände lagen immer noch auf ihren Schultern. So blieb ich. Ich schaute, schaute bloß. In all meiner Schwäche … Sie schaute mich nicht an, vielmehr schien es so, als wollte sie nicht schauen. Ich mußte gehen, zumindest für heute mußte ich gehen. Ich sah die Grenze. Ich nahm meine Hände herunter und stand auf. Dieses Mal sprach ich, ohne sie anzuschauen.
    »Ich liebe dieses kleine Mädchen, und zwar sehr … Denn jenes kleine Mädchen … Jenes kleine Mädchen bist nicht nur du, das bin zugleich auch ich …«
    Hatte sie verstanden? … Oder noch wichtiger, hatte sie mich gehört? … Ich wußte, ich würde keine Antwort auf meine Worte bekommen. An jenem Tag konnte ich nichts weiter erwarten. Ich ging zur Tür. Ehe ich hinausging, sagte ich, daß ich die Blumen in ihr Zimmer bringen lassen würde.
    Ich ging wieder ins Zimmer der Oberschwester. Drinnen traf ich auch auf Doktor Zafer. Wir tranken zusammen noch einen Tee. Ich erzählte, was geschehen war. Ich wollte weitermachen. Ich wollte mehr sehen … Und wenn ich verlor, wollte ich besser verlieren und besser verstehen, was ich verlor … Ich war bereit, alles dafür zu tun, in ihr weiter zu gehen, bis zum letztmöglichen Punkt, an den ich gehen konnte. Ich wollte aber auch keinen falschen Schritt tun, der den gesamten Prozeß völlig anhalten konnte. Auch wenn ich überzeugt war, daß die Gefühle und die Echtheit die richtigsten Schritte zeigen würden … Die Oberschwester, die meinen Besuchen anfangs mit gezwungener Höflichkeit begegnet war, betrachtete mich dieses Mal mit anderen Augen. Vielleicht gab ich auch ihr das Material zu einer anderen Erzählung. Wer wußte, was ihre Träume und ihre Geschichte waren. Der Kommentar von Zafer Bey, der meinem Vortrag aufmerksam zugehört hatte, ohne mich zu unterbrechen, wobei er stellenweise meine Bewegungen prüfend beobachtete, war, soweit ich verstand, sowohl ermunternd als auch sehr freundschaftlich.
    »Das ist eine gute Entwicklung. Wir nehmen solche Reaktionen sehr wichtig. Sie müssen noch öfter kommen. Sie braucht Sie jetzt sehr …«
    Mir war der Punkt bewußt, an dem ich mich befand, an den ich gebracht worden war. Auch ich brauchte diese Frau, die sich mit ihrem Licht in ihrer Finsternis verlaufen hatte, doch ich konnte ihnen nicht erzählen, was ich fühlte, was jene Pinselstriche in mir ausgelöst hatten. Ich begnügte mich damit zu sagen, ich würde den Appell ernst nehmen und mein möglichstes tun, jene Korridore besser kennenzulernen, von denen ich glaubte, sie könnten mich mit den Tiefen eines Raumes verbinden. Natürlich wollte ich auch das vollendete Bild sehen. Wie würde jenes Bild vollendet werden? … Würde es wohl vollendet werden? … Auch diese Frage behielt ich für mich. Denn es war meine Frage, eine Frage, die ich nur mit Şebnem erleben wollte. Es hatte keinen Sinn, das Gespräch auszudehnen. Ich erhob mich. So bald wie möglich würde ich einen erneuten Besuch wagen. Für Şebnem, für meine Geschichte, für alles, was ich erlebt hatte und erleben würde … Für jeden in diesem Spiel …
    Als ich nach draußen ging, schloß ich die Hand wieder um den Ohrring, versuchte ihn zu fühlen. Mein Gefühl riet mir, erneut an die Kraft der Zeit zu glauben. Ich bestieg mein Auto und kehrte in mein leichter zu ertragendes Leben zurück. Ich hoffte, mich ein wenig ausruhen und andere Fragen stellen zu können, wenn es sie gab … Diese Erzählung brauchte eine kurze Stille. Nur so konnte ich meine Befürchtungen ertragen. Doch ich konnte nicht ahnen, daß binnen kurzem eine unerwartete Entwicklung diesem Verlauf neuen Schwung verleihen würde. Şebnem lebte in jenem Zimmer mit so einer machtvollen Stimme … Diese Stimme erfüllte mein Inneres …

Letztlich sind Leben und Tod immer verschlungen
    Es war ein Samstagmorgen … Die Hausbewohner und ich lebten in unterschiedlichen Zeiten … Wie immer war ich vor allen anderen aufgestanden, hatte geduscht, gefrühstückt, mich im Salon aufs Sofa gestreckt und begonnen,

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