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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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bezeichnen konnte, es so gut wie möglich zu fassen. Anders konnte ich die Grenze, an die wir gekommen waren, nicht verstehen, nicht wirklich erleben. Konnten ein paar zaghafte Worte ausdrücken, was ich von wem erwartete? …
    »Denkst du … Denkst du, das Bild wartet auf jemanden, meine liebe Şebnem? … Auf jemanden … Oder …«
    Ich konnte nicht weiter. Ich kam bloß bis dahin. Sie blickte weiter auf das Bild. Dann drückte sie die Pinselspitze an der engsten Stelle des Weges, am fernsten Punkt auf. Sie blieb dort so. Ihre Hand zitterte leicht. Wo war sie? … Wohin war sie gegangen? … Was suchte sie? … Konnte ich ihr an den Ort folgen? … Ich wußte es nicht. Dennoch mußte ich tun, was ich konnte. Eine Stimme sagte mir, ich müsse noch einen weiteren Schritt tun. Ich versuchte, die Stimme so hörbar wie möglich zu machen. Ich wurde zu einer Frage aufgefordert.
    »Wer ist dort, meine liebe Şebnem? …«
    Sie drückte den Pinsel fester auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ja, wir sprachen, wir sprachen nun mit unserem tiefsten Inneren. Wie hätte ich diesen kleinen Fortschritt, vielmehr die wenigen zaghaften Schritte, die sie getan hatte, übersehen können? … Als ich herkam, hatte ich auf solche Schritte allenfalls hoffen können. Doch in dem Moment gab mir das Leben mehr, als ich erträumt hatte. Plötzlich … Plötzlich sprach sie mit einer leicht weinerlichen Stimme, die Angst, Ausweglosigkeit ausdrücken wollte, fast wimmernd.
    »Das kleine Mädchen … Das kleine Mädchen ist verlorengegangen …«
    Dieses Wimmern war ein Schrei. Ja, ein Schrei. Ich konnte das, was sie sagte, nicht anders hören. Mich schauderte am ganzen Körper. Mir war, als steckte ich in einem Albtraum. Wie seltsam war außerdem das, was ich fühlte. Statt mich zu freuen über die Stimme der Frau, nach der ich mich so gesehnt, auf die ich so gewartet hatte, schien diese mir aus tiefster Finsternis, aus einer Höhle zu kommen. Ich hatte mir eingeredet, sie würde viel länger sprachlos bleiben, nicht sprechen … Nun war ich hilflos, schutzlos, nackt, ganz nackt. Meine trügerische Überlegenheit, die daher rührte, daß ich einem verwundeten Menschen helfen wollte, war in die Binsen gegangen. Wir teilten einen viel gleicheren, viel ehrlicheren Augenblick. Was konnte ich tun? … Dann schaute sie und wiederholte ihre Worte mit einem noch schmerzlicheren, ratloseren Ausdruck.
    »Das kleine Mädchen ist verlorengegangen …«
    In dem Augenblick tat ich das einzige, was ich tun konnte, ich versuchte, wieder auf meine innere Stimme zu hören, und nahm sie in meine Arme, umarmte sie fest. Eigentlich … Eigentlich wollte auch ich mich an ihr festhalten. Ich wußte nicht, ob ich die Şebnem umarmte, die ich in jener Finsternis gefunden hatte, die ich mit hilfreicher Hand erneut ins Leben zurückbringen wollte, oder die Şebnem, der ich meine Liebe nie hatte bekennen können, die ich deswegen nie aus meinem Leben verbannt und ganz tief in mir vergraben hatte, was dazu geführt hatte, daß ich immer einen Mangel erlebt hatte. Oder umarmte ich sogar die Liebe als solche, die ich für immer verloren, nie gelebt zu haben glaubte? Ich wußte nur, daß ich sie aus ganzem Herzen umarmen wollte. Auch ich wollte aus dieser Umarmung Kraft schöpfen. Auch ich … Als wäre ich in dem Moment ein kraftloser und zerbrochener Mensch genau wie sie … In diesem Moment verkörperte die Frau in meinen Armen alle meine Niederlagen, alles, was ich bereute, meine Einsamkeiten … Und sie? … Was fühlte sie in dem Moment? … Wenn ich das doch gewußt hätte. Ich sah nur, daß sie ganz anders reagierte als ich. Sie wirkte reaktionslos. In meinen Armen hielt ich eine Frau, von der ich noch immer nicht wußte, wo, wie sie sich befand. Eine Frau, von der ich nicht sagen konnte, ob sie je ihre Sprache wiederfinden, ob sie leben wollte … Diese Frau atmete nur heftig. Mir war unklar, ob das der Atem des Bemühens um Rückkehr war oder des Wunsches, sich erneut in sich selbst zu begraben. Wenn sie sich in einem Kampf befand, worum ging es dabei? … Wenn sie Widerstand zeigte, gegen wen richtete der sich? … Waren diese Fragen wichtig … Oder war wieder ich es, der sich diese Möglichkeiten ausdachte? … Ich hielt es nicht aus. In aller Ratlosigkeit versuchte ich, meine Gefühle auszudrücken, wobei meine Stimme ungewollt weinerlich klang.
    »Sprich, Şebnem, sprich! … Ah, bitte, sag doch etwas! …«
    Ich hielt sie an den Schultern und

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