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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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den Sportteil der Zeitung zu lesen, wobei ich mich an ein paar alte Bilder zu erinnern versuchte, die in meinem Geist noch nicht erloschen waren. Da klingelte das Telefon. Es war Niso. Er befand sich auf Büyükada, der Großen Insel. Als er am Morgen aufgewacht und im Café gegenüber der Anlegestelle, bei debarkader , seinen Tee getrunken hatte, war ihm die Idee gekommen, mich anzurufen. Eigentlich sei er schon drei Tage in Istanbul, doch habe er seine Benommenheit noch nicht abschütteln können. In spöttischem Ton entschuldigte er sich, weil er mich am ›Schabbath‹ störe … Auf Anhieb beschwor er soviel von unserer Realität, von den Spuren unserer Geschichte herauf … In ihrer Naivität, ihrer Herzlichkeit weckten seine Worte so viele Assoziationen … Es war unter ›unseren Leuten‹ üblich, jenen Platz neben der Anlegestelle auf Büyükada, besser gesagt auf ›der Insel‹ debarkader zu nennen. Man benutzte das Wort, ohne zu wissen, daß es im Französischen die Bedeutung von Anlegestelle hatte … Debarkader war ein lebendiger, unvergeßlicher Platz in seinem Leben gewesen, und alles andere war egal. Zu sagen, er habe am ›Schabbath‹ gestört, bedeutete gleichfalls, uns in unsere alte, unzerstörbare Lebenswirklichkeit hineinzuziehen. Wir beide scherten uns wenig darum, die Vorschriften für diesen Tag einzuhalten. Vor allem Niso. Denn obwohl er der Sohn eines Rabbiners war, hatte er sich in der Zeit, als ich ihn kennenlernte, entschieden, wie ein Atheist zu leben. Mir kam es recht unwahrscheinlich vor, daß atheistische Juden in einem Land, in dem man viel freier als hier leben konnte, den Weg des Glaubens einschlugen. In dieser Situation erwartete ihn nur eine Antwort. »Jetzt reicht's aber, du Heuchler! … Vermehre deine Sünden lieber nicht durch weiteres Gerede! … Was wollen wir machen? …«
    Nach vielen Jahren hörten wir zum ersten Mal gegenseitig unsere Stimmen. Ich war aufgeregt. Er auch? … Das war nicht leicht zu erkennen. Zwischen uns lagen so viele Stimmen …
    »Magst du herkommen? … Wir setzen uns ans Meer, trinken Tee und reden. Hier ist jetzt nicht viel los. Die Sommerfrischler sind noch nicht da …«
    Ich konnte hinfahren. Der Gedanke erschien mir plötzlich sehr verlockend. Ich fragte ihn, ob er eine Telefonnummer habe. Ich würde auf den Schiffsfahrplan schauen und ihm meine Ankunftszeit mitteilen … Er gab mit entschiedener Stimme Antwort und ließ mich dabei wieder diese Nähe spüren.
    »Ich habe einen Fahrplan hier. Ich sag's dir gleich …«
    Er schien sich gründlich auf mein Kommen vorbereitet zu haben. Daß er sich einen Fahrplan besorgt hatte und diesen ohne Schwierigkeiten lesen konnte, schien zu zeigen, daß die Verbindung zu der Stadt, die er vor Jahren verlassen hatte, nicht gänzlich abgerissen war. Er sagte mir die Abfahrtszeiten des Dampfers. Wir machten einen Schritt in Richtung auf eine neue Zeit. Ein paar Stunden später konnten wir uns treffen, einander sehen.
    Çela war vom Läuten des Telefons wach geworden und hatte mein Gespräch mit Niso gehört. Ich mußte keine Erklärung abgeben. Sie merkte, wie mich die Sache begeisterte. Ich zog mich an und bereitete mich auf eine weitere Reise vor. Dabei sagte ich, ich werde nicht allzuspät zurückkehren … Sie nickte stumm. Mehr war nicht nötig. Wir wußten beide, daß ein ›Spätkommen‹ dieses Mal niemanden verletzen würde. Ich entschied mich für die Straße nach Bostancı, weil ich hoffte, noch mehr in Stimmung zu geraten. Denn ich war in meiner Kindheit und Jugend immer von dieser Dampferanlegestelle auf die Insel abgefahren, diese ›Insel‹, die ich mit ganz unterschiedlichen Gefühlen erlebt hatte.
    Auf dem Dampfer zogen mir viele alte Bilder durch den Sinn. Soviel Trauer, Wut, Ausgrenzung und Unvollkommenheit gab es in jenen Bildern … Soviel Aufgeschobenes, soviel Ungesagtes … Diese Gefühle hatten mich jedesmal erfüllt, wenn ich auf die Insel gefahren war. Gefühle, die mich zu mir selbst gemacht hatten, deren Bedeutung ich, wenn ich ein wenig nachgebohrt und mich zu erinnern versucht hätte, wodurch Licht in eine andere Finsternis meiner Geschichte gefallen wäre, alle in mir zu verschließen gewünscht hätte … Doch in jenem Augenblick wollte ich nicht weiter nachgraben. Auch war der Punkt, an dem ich stand, ein ganz anderer, genau wie der Punkt, auf den ich zuging … Angesichts der Bilder, an die ich mich dort erinnerte, hätte ich mir sehr alt vorkommen können. Dieser

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