Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
Begeisterung, mit unerschöpflicher Begeisterung, mir gegenübersaß, ich kannte ihn sehr gut.
    »Es geht mir gut, richtig … Ich weiß, was du hören willst. Ohne daß du fragst, werde ich es dir sagen. Ich bin kein ganz glücklicher Mensch; trotz allem, was ich gemacht habe, fühle ich mich manchmal sehr einsam, und doch geht es mir gut. Ich erlebe keine Konflikte mehr. Ich bin glücklich, weil ich meine türkische Seite habe bewahren können. In der Musik, die wir machen, weht ein Hauch von diesem Land, ich trinke weiterhin Raki und lese die Gedichte von Meister Nâzım, Fenerbahçe regt mich nach wie vor auf, du wirst es nicht glauben, sogar mehr als früher, und wenn ich mich so richtig ärgere, beispielsweise am Fernseher, kommt es vor, daß ich mich beim Fluchen, du weißt schon, erwische … Das alles kann mir niemand nehmen … Heutzutage ist beispielsweise einer meiner größten Träume, die Gedichte von Nâzım zu dramatisieren und auf die Bühne zu bringen. Nâzım auf hebräisch! … Kannst du dir das denken, Alter? … Wenn ich nur daran denke, kriege ich eine Gänsehaut … Aber die Übersetzungsarbeit ist schwierig. Das kann niemand außer mir machen, besser gesagt, da lasse ich keinen dran, ich überlasse es keinem, das lasse ich mir nicht wegschnappen. Schauen wir mal … So steht's also … Doch ganz ehrlich, wenn du jetzt sagen würdest, komm zurück, würde ich nicht zurückkommen wollen. Den größten Teil meines Lebens habe ich dort verbracht, und höchstwahrscheinlich wird es auch dort enden. Meinen größten Kampf habe ich dort gekämpft. Zudem ist dieser Kampf noch nicht zu Ende. Weder für mich noch für das Land, in dem ich lebe … Wir tun, was wir können, in der Hoffnung, es besser zu machen und das zu sehen und zu erleben. Was glaubst du, warum wir unsere Friedensmärsche und Versammlungen veranstalten? … Die Antwort ist einfach. Um unsere Träume nicht zu verlieren. Weißt du, wie ich geweint habe in der Nacht, als Rabin von jenem niederträchtigen Schurken ermordet wurde. Ich habe mich gefragt: ›Soll soviel Mühe umsonst gewesen sein, oder sollen wir wieder an den Anfang zurückkehren? …‹ Aber schau, wir haben uns noch nicht unterkriegen lassen. Was in Palästina passiert, belastet mein Gewissen sehr. Doch andererseits möchte ich, daß diejenigen, die über Israel so einseitig urteilen, so ahnungslos daherreden, einmal erleben, was die Menschen fühlen, die mit Kind und Kegel in den Keller flüchten, wenn in Haifa Bomben und Raketen auf unsere Köpfe fallen. Wenn sie das selbst erleben würden, wäre ich wirklich sehr gespannt, wie sie die Dinge betrachten würden …«
    Dann hielt er inne … Wir durchlebten ein weiteres Schweigen. Auch ich hielt inne. Weil ich spürte, daß er noch etwas sagen wollte … Es mußte keine lange Zeit vergehen, bis ich merkte, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Ich konnte die Begeisterung und Lebensbejahung wieder in seiner Stimme hören. Doch ich hörte auch die Trauer und die Herzlichkeit …
    »Weißt du, warum ich das alles gemacht habe und mache? … Schau mal, ich bin immer noch ein Linker, in den Augen mancher ein Verrückter, ein Anarchist, ein Taugenichts, wie immer du das nennen magst … Aber ich lebe aus dem vollen. Warum? … Hast du darüber nachgedacht? … Warum tue ich das alles? …«
    Ich gab keine Antwort. Ich wollte ihn nicht kränken, indem ich eine falsche, eine unpassende Antwort gab. Ich spürte, daß wir an einen ganz sensiblen Punkt gelangt waren. Seine Antwort zeigte mir, daß mich mein Gefühl nicht getrogen hatte.
    »Weil ich mich vor dem Alleinsein fürchte …«
    Das waren berührende Worte, die einen zu ganz verschiedenen Schlüssen verleiten konnten. Ich konnte seine Worte von dem Punkt aus hören, den mir sein Leben gezeigt hatte, oder auch, indem ich mich bemühte, besser zu verstehen, was er erlebt hatte … Wen betraf diese Angst?… Diese Angst konnte uns an verschiedene Punkte bringen, uns mit einer Wirklichkeit konfrontieren, sosehr wir auch vor ihr zu fliehen versuchen … Sie konnte uns dermaßen uns selbst geben, von uns erzählen … Ich konnte ihn in dieser Situation nicht fragen, über welches Versäumnis er traurig war. Ich fragte auch nicht. Auch nicht, was er wirklich vermißte … Zwischen den Zeilen hatte er sowieso einige Hinweise gegeben. Den Rest zu finden, tiefer zu suchen, war meine Sache. Und für wen war das Leben nicht voll von Bedauern, Nichtgelebtem und verschenkten

Weitere Kostenlose Bücher